Angst vor dem Leben

Starke Gefühle ohne wirkliche Substanz?, fragt Christa Schyboll

Dass viele Menschen Angst vor dem Tod oder dem Sterben haben, ist nicht ungewöhnlich. Aber viele Menschen haben auch Angst vor dem Leben, dass sie bis zum Sterben begleitet.

Dort, wo diese Ängste nun eine reale Substanz haben, versteht man dies gut. Man befindet sich beispielsweise vielleicht in existentieller Gefahr, sein Leben zu verlieren, sei es durch Krankheit, Unfälle, sonstiger Not. Diese Ängste sind so natürlich, wie Donner und Blitz, die uns auch Angst einjagen können.

Was aber ist mit den vielen Menschen, die Angst vor dem Leben an sich haben, obschon sie in ganz normalen Verhältnissen leben? Das heißt, sie werden satt, müssen weder erfrieren, haben eine ausreichende medizinische Grundversorgung - dennoch werden sie ihre Angst lebenslang nicht los, obschon nichts auf eine besondere Gefahr oder eine tödliche Krankheit hindeutet. Diese Menschen sind aber keineswegs psychotisch auffällig oder geistesgestört, sondern tragen diese leise Lebensangst unter Umständen tief verschlossen in sich und sind durchaus in der Lage, ihr normales Arbeitspensum zu erfüllen.

Hier ist nicht wirklich der Leib bedroht, sondern ein Lebensgefühl. Es ist eine Unsicherheit, die sich ganz unspezifisch eingenistet haben kann, ohne dass dem immer ein besonderes Ereignis oder eine Traumatisierung vorausgegangen sein müsste. Es ist in gewisser Weise schon eine Art „Krankheit“, die dennoch nicht unbedingt mit einer klassischen Depression oder psychischen Störung einhergehen muss. Es ist kann gestörtes Urvertrauen sein, Überlastung oder Überforderung, die das Leben auch für ganz normale Menschen zeitweise zur Hölle machen können. Es kann die Sorge sein, woher man nur die Kraft nehmen soll, die nächsten anstehenden Probleme auch schon wieder zu lösen. Oder die Frage, wie man dem alltäglichen Mobbing umgehen lernt, der Überschuldung entkommt oder dem Partnerschaftsstreit. Nichts davon bedroht das Leben. Und dennoch ist die Summe aus allem: Lebensangst!

Angst vor dem nächsten Tag und seinen ganz normalen alltäglichen Schrecknissen, die so schrecklich anstrengend sein können. Eine Bangigkeit, es in einer immer komplexeren Welt einfach nicht mehr alles zu schaffen, obschon man doch recht komfortabel organisiert ist. Furchtsam in die eigene Zukunft zu schauen, wo Ungemach drohen könnte oder auch real droht, wenn man Statistiken allzu wörtlich nimmt. Ein Schauder, an die eigene Gebrechlichkeit zu denken und mit Entsetzen der eigenen Hilflosigkeit oder Ohnmacht im Alter entgegen zu sehen.

Dass nichts von diesen Ängsten gesund ist, auch wenn sie häufig bei vielen Menschen vorkommen, versteht sich von selbst. Aber wie wird man sie los? Was kann man tun, um nicht von ihnen dominiert zu werden? Nüchternes, klares Hinschauen auf die reale Situation wäre eine von vielen Methoden. Dann würde man oft schon erkennen, dass viele Ängste ein Natterngezücht von Zukunftsmodellen ist, die auch völlig anders ausfallen könnten. Führt man sich vor Augen, unter welch unendlich größeren Schwierigkeiten andere Menschen ihr Leben nicht nur meistern, sondern es sogar noch genießen, könnte auch dies eine heilsame Korrektur unserer falschen negativen Grundannahmen bedeuten. Es ist kein Zufall, dass viele Menschen von Ängsten heimgesucht werden. Dahinter liegen Prägungen vielfacher Art - aber auch persönliche Wesenszüge, die man im Laufe des Lebens in die eine oder andere Richtung verstärkt hat. Bis zu einem bestimmten Grad kann der gesunde Mensch seine Ängste regelrecht auch wieder ausschwemmen. Es braucht jedoch ein wenig innere Disziplin und ein paar Methoden, die leicht zu erlernen sind. Doch sind wir lernbereit?

Unser Blick ist nicht nur getrübt, sondern auch vielfach manipuliert. Uns werden Ängste eingeredet, wo auch Gründe zur Hoffnung bestehen. Allerdings werden auch Hoffnungen oft absichtlich zunichte gemacht, damit wir uns ängstigen sollen. Unter Angst wählt man zum Beispiel politisch anders als ohne Angst. Wir selbst entscheiden, ob wir den destruktiven Gedanken in uns mehr Raum geben oder den konstruktiven Alternativen, die es fast immer gibt.

Im Frühling bricht das neue Leben auf. Vielleicht eine gute Zeit, auch bei sich selbst in den eigenen Gedanken endlich einmal einen Frühjahrsputz zu halten und die alten Ängste mit dem Winter auszutreiben, damit die Sonne Lust hat, in unser neues Haus einzuziehen.

— 22. März 2013
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