Des Lebens müde

Über Lebensbilanz und Erschöpfung sinniert Christa Schyboll

Von potenziellen Selbstmordkandidaten sprechen die nachfolgenden Gedanken nicht. Das vorab. Aber von Lebensmüden. Von jenen, die sich so verausgabt haben, dass es irgendwann einmal reicht.

Das Leben, die Anstrengung, das immer weitere Lernen wollen und müssen. All diese sozialen Verpflichtungen! Gut, wichtig, unverzichtbar, aber auch belastend zugleich. Immer mehr Umstellungen, Wandlungen, Notwendigkeiten stehen an, um die man nicht drum herum kommt, wenn man im sozialen Netz und mitmenschlicher Anteilnahme weiter aufgehoben sein will.

Nein, man braucht überhaupt nicht den Hauch einer Depression, um am Leben selbst müde zu werden. Entscheidend ist der eigene Einsatz, die Menge der Wagnisse, die man selbst freiwillig oder unfreiwillig einging und der Aufwand der Energie, der für alles tagein, tagaus aufbringen muss.

Jahrzehnte mag man es leicht schaffen. Alles keiner Rede wert, weil man selbst der Macher-Typ ist. Einer, der Visionen ohne Ende hat; wohlwissend, dass dennoch nur ein Bruchteil dabei umgesetzt werden kann. Denn schließlich kam man nur als eine einzige Person auf die Welt, was angesichts bestimmter Pläne, die man hegt und im Herzen trägt, hoffnungslos zu wenig ist. Ja, lächerlich wenig, wenn man über so viel Energie, Fantasie und Schaffenslust verfügt!

Ist es also das Hirn, dass diese Lebensmüdigkeit produziert? Einfach weil es nicht nur nachdenken, sondern auch vorausdenken kann und sich damit eine gigantische Flut von Optionen schafft? Weil es die Übersicht auch dort behält, wo die Gefühle ihren leisen Tango tanzen und sich um die Welt nicht scheren (wollen)?

Oder ist es mehr das Bewusstsein, das Bilanz zieht und erschrocken feststellt: Oh, Gott, was hast du schon alles geleistet!... Nach außen vielleicht unspektakulär. Für andere auch nicht nachzuvollziehen, aber im Wissen um die Abertausenden von Bemühungen, die gedanklich und emotional eine geradezu ungeheure Energiemenge aufbringen mussten, um als Wirklichkeit in der Welt der konkreten Erfahrungen anzukommen.

Bilanziert man gründlich, steigert sich die Müdigkeit. Bei manch einem vielleicht auch ein klein wenig Stolz darüber, dass man sich bei und trotz allem bisher selbst überlebt hat. Man hat Krisen gemeistert, Probleme gelöst, neue, andere Probleme auch wieder geschaffen, aber sich immer und immer wieder wie Münchhausen aus dem Sumpf in die Herrlichkeit des Lebens gezogen.

Was aber wäre, würden wir dank medizinischer Möglichkeiten einmal 130 oder 150 Jahre alt werden? Selbst dann, wenn die körperliche Frische bis nach dem 80. Lebensjahr anhielte, wäre es doch ein Horror, über eine so lange Zeit dennoch ein "alter" Mensch zu sein!? Oder...?

Man ist so alt, wie man sich fühlt? Ja… aber. Wie alt fühlt man sich, wenn man tüchtig im Leben zugelangt hat und irgendwann auf natürliche Weise erschöpft ist? Auch dann, wenn das Gehirn sogar noch gut funktioniert?

Diese Gedanken wollen unverzichtbar mit dem Fühlen verbunden werden, um nicht blutleer daherzukommen. Dann aber wallt das Blut auf. Je nachdem, in welche der vielen Richtungen man selbst gelebt hat.

Intensiv? Mehr unterfordert? Gelangweilt, verwöhnt, dekadent, erfolgreich, versagend, eine Nullität mit einer heimlichen Scham vor sich selbst? Der ewige Macher? Warum? Weil man es konnte, weil es befriedigte, weil es das Leben spannender machte? Oder weil man seine Talente nicht verkümmern lassen wollte?

Jeder wird seine eigenen Antworten finden, ob er seine Lebenszeit genutzt oder vertan hat. Ob er es hat schleifen lassen, weil es eben seinem Naturell entsprach oder sich auf die Hinterbeine gesetzt hat und viele Möglichkeiten immer wieder neu genutzt hat, Leben lebendig, bunt, spannend und ereignisreich zu gestalten. Warum? Um von den unendlichen Möglichkeiten zu kosten, die nur eine Richtung kennen: Die Grenzenlosigkeit.

Im letzteren Fall ist es einfach nur normal, irgendwann am Leben müde zu werden. Lebensmüde, zufrieden – trotz vieler nicht erreichter Ziele. Und trotz des oft Unglaublichen, was dennoch alles erreicht, verlebt, verstanden und verarbeitet wurde… auf das es am Ende zu irgendetwas tatsächlich sinnvoll ist.

— 21. Februar 2022
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