Leben am Limit

...weil der Verdienst nicht reicht. Von Christa Schyboll

Karl ist 37 und Schauspieler. Er ist in einem festen Ensemble in einer mittelgroßen deutschen Stadt engagiert und beherrscht sein Fach famos. Er arbeitet Vollzeit und kann dennoch nicht halbwegs vernünftig von seinen Gagen überleben. Deshalb trägt er frühmorgens Zeitungen aus.

Susanne arbeitet als Hilfsköchin, sie hat ebenfalls einen Vollzeitjob, der körperlich sehr anstrengend ist. Sie verdient unter tausend Euro netto im Monat und kommt mit Miete, Auto, Heizung und all den anderen Lebenshaltungskosten vorne und hinten einfach nicht rund, weil auch noch die Kreditkosten des gebrauchten Autos abzubezahlen sind, das sie dringend für den Job braucht. Auch weil abends keine Busse fahren, auf die sie aber angewiesen ist. Obschon sie täglich Tod müde von der Arbeit kommt, hat sie noch zwei private Putzstellen. Anders ist es nicht zu schaffen.

Wilfried fährt Gabelstapler im Hafen der Hansestadt Bremen. Auch er kommt nicht mit seinem Lohn aus, obschon der überall knausert. Da Wilfried Tagesschicht hat, kann er abends noch einen Nebenjob als Pförtner ausüben. Damit geht es ihm besser als Bettina, die als Hilfsschwester im Krankenhaus arbeitet und wegen ihrer zeitlichen Einsätze einfach keinen Nebenjob findet und sich immer mehr verschulden muss.

Freizeit? Lebensqualität? Zeit für sich selbst? Zeit zum erholen, gesunden, zur eigenen Freude? Freie Zeit zum Spielen mit den Kindern, zum Stadtbummel mit der Frau oder der Freundin? Das werden für immer mehr Menschen Luxusgedanken.

Es ist ein Unding in unserer Gesellschaft, dass die Politik es auch im 21. Jahrhundert nicht schafft, in einer der reichsten und wirtschaftlich mächtigsten Länder der Erde eine ausreichende, würdevolle Entlohnung für Vollzeit arbeitende Menschen gemeinsam mit Gewerkschaften und Arbeitgebern durchzusetzen. Eine, die jedem Menschen, der mindestens seine acht Stunden am Tag arbeitet, einen solchen Mindestlohn zusichert, dass er nicht darauf angewiesen ist, einen gesundheitlich zerstörenden Zweitjob annehmen zu müssen. Gleichzeitig werden uns seit Jahren Milliarden-Hilfen für marode Banken europaweit nur so um die Ohren geschlagen. Am Geldmangel kann es also ganz offensichtlich nicht liegen.

Es ist eine Frage von Würde, Gerechtigkeit und Mindeststandard, der viel lauter als bisher von all den Menschen gestellt und laut gefordert werden müsste, die unter unsäglichen Bedingungen harter Arbeit trotz allem einfach hinten und vorne nicht rund kommen können, auch wenn sie noch so an sich selbst geizen.

Dass unter solchen Bedingungen da so manch einer lieber unter das – wenn gleich auch nicht üppige – Netz der staatlichen Sozialleistungen schlüpft, ist leider so verständlich wie fatal für die Gesellschaft zugleich. Aber das ist keine Lösung, sondern führt in nicht wenigen Fällen auch zu einer Zementierung und Verschärfung, weil man sich auch an ein solches Leben durchaus gewöhnen kann. Es gibt zwar keinen Luxus her, aber man muss sich eben auch nicht krumm arbeiten wie alle jene vielen Geschundenen, die nach einem körperlich harten Achtstundentag allen Ernstes anschließend noch ihren Zweitjob antreten, während der Rest der anständig Bezahlten sich dann lieber vor dem Fernsehen, im heimischen Garten oder im Fitnessstudio erholen darf.

Fühlt man sich dort hinein, so mutet es wie ein modernes Sklavendasein an, das all diese Menschen leben, nur um dem Rest der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen.

Wäre es nicht an der Zeit für alle, sich mit jenen Menschen zu solidarisieren? Für ihre Belange öffentlich und klar einzutreten, weil sie selbst natürlich keine Lobby haben?

Wie viel Mitgefühl ist notwendig, dass wir uns zu diesem Schritt in Gedanken, Gefühl und Wort endlich durchringen?

— 13. Juni 2012
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