Leben und Lebensqualität

Hört Stress denn niemals auf? Fragt Christa Schyboll

Wie hoch, so fragte ich mich heute Morgen, mag der Anteil der Menschen in unserer Gesellschaft sein, die keinen Stress kennen? Zumindest nicht derzeit und aktuell.

Zuerst fielen mir die Rentner ein. Bei näherem Nachdenken verwarf ich das aber schnell wieder. Denn mir fiel Otto T. ein. Er ist Rentner und immer im Stress. Noch mehr als ich. Er kommt nämlich mit seiner Rente nicht rund und braucht seine Zusatzjobs. Da er aber nicht mehr ganz gesund ist, verursacht ihm dies Stress. So wird es zukünftig immer mehr Rentnern gehen. Also keine ganz stressfreie Zone, die ich auch noch mit anderen Beispielen aus dem Rentnerlager nun zu füllen wüsste.

Jugendliche in der Schule? Sind die nicht wenigstens stressfrei? Nein. Die Anforderungen wachsen und die Zerreißproben, Verführungen und die Lebensart vor dem Computer, dem viele bereits süchtig verfallen sind, sind auch Stress. Dann der Ärger mit den Eltern, die ständig maulen, weil die Noten in vielen Fällen nicht gut genug und das Geballere zu häufig ist, was nicht selten auf direkte Zusammenhänge stößt. Auch hier wäre noch eine lange Liste von Dauerstress anzuführen, in denen sich die meisten gefangen wähnen.

Ah, die Beamten, die haben keinen Stress! Endlich habe ich eine Gruppe gefunden. Wieder falsch. Der Personalabbau in den meisten Behörden wird immer mehr beschleunigt. Die Organisation bläht sich immer mehr auf, obschon Computer seinerzeit als Arbeitsentlastung hoch gelobt wurden. Blödsinn. Immer mehr Mails, mehr als je zuvor jemals Briefe geschrieben wurden, laufen tagtäglich auf. Alles soll beantwortet werden, was schon längst nicht mehr geschieht. Das Klischee vom "gemütlichen Beamten“ früherer Zeiten ist absurd geworden, auch wenn es überall in allen Branchen hier und da noch ein paar Ausnahmen geben wird.

Hausfrauen, die nicht arbeiten gehen! Mein letzter Versuch, eine stressfreie Gruppe zu finden. Nein. Stimmt auch nicht. Jedenfalls nicht in der Regel. Hausfrauen, die nicht arbeiten gehen, haben in der Regel nämlich dann tatsächlich auch mehrere Kinder, keine Putzfrau, Haus, Garten, vielleicht noch Haustiere und nicht selten auch noch einen Angehörigen, den sie zusätzlich pflegen dürfen. Es gibt auch Frauen, die all das sogar mit Job noch schaffen müssen. Das ist dann kein Stress, sondern Megastress, wenn sonst keine anderen Hilfen, Angestellten oder Omis sehr tüchtig mit zur Hand gehen.

Sind wir also mehr oder weniger alle ständig im Stress? Die meisten, die ich aus allen möglichen Berufszweigen kenne, sind es tatsächlich. Natürlich kann man sagen: Selbst schuld! Man hat sein Leben mit Kinder, Partnerschaft, Beruf usw. ja in fast allen Fällen freiwillig gewählt. Deshalb gelten jetzt auch keine Klagen.

Ist es so einfach? Nein. Das Leben ist komplexer. Aber das Leben fordert eben auch von uns allen, dass wir es in dieser Komplexität verstehen. Dass wir begreifen, wie wir selbst an dieser Spirale unbewusst oder bewusst mitdrehen, Tendenzen mitmachen oder unkritisch mit einer willfährigen Masse im ungesunden Strom einer gestressten Gesellschaft schwimmen. Bilanzieren wir das ehrlich, können wir umdenken und so manches von dem, wie wir derzeit leben, neu auf den Prüfstand stellen. Da sind zunächst kritische Fragen zum eigenen Stress zu stellen, der nicht immer und nur allein von außen kommt, auch wenn es so ausschaut.

Aber macht eine solche Analyse Spaß? Nein. Sie macht eher noch weiteren Stress! Und auf den Stress diesen jetzt noch draufzusetzen – ist das sinnvoll? Der Versuch ist es wert. Denn unter Umständen kommt dabei dann eine neue Lebensqualität heraus, die den Stress mit dem Stress durchaus lohnt.

— 13. Juni 2012
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