Verschwendete Zeit

Zeitqualität zwischen Leben und Tod. Von Christa Schyboll

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten meines Lebens, dass mir der Tod schon seit der Kindheit gefühlt immer nah ist. So nah, als begleite er mich Tag ein, Tag aus, wie die Sonne, der Mond oder der Regen. Oder der Alltag. Er ist integriert und ist zugleich der Fremdkörper meines Lebens, weil er es eines Tages nehmen wird. Er nimmt mich ständig an die Hand. Abschütteln lässt er sich nicht. Doch manchmal ist er mir schon etwas lästig. In anderer Weise haben wir uns ein klein wenig auch aneinander gewöhnt.

Daran ist nichts Dramatisches. Auch nichts Unnatürliches. Nichts, das Angst machen sollte, sondern es ist hinzunehmen, wie jede andere Sache auch, die Menschen so mit sich herumtragen. Manche plagen sich mit so vielem, seien es Schulden oder eine Krankheit, seien es Feindschaften oder berufliches Pech oder der falsche Partner. Ein jedes Ereignis hat seine Berechtigung zu sein und wird auch immer jemanden finden, der es ernst und wichtig nimmt. Jemanden, an dem man sich festbeißen kann, weil er es zulässt und irgendwie mit dem Thema auch identifiziert ist.... vielleicht auch infiziert.

Bei mir ist das unter anderem halt der Tod. Wie gesagt, seit Kindheit an. Damit einher geht für mich jedoch die Zeit, die eigene Lebenszeit, und mein drohendes Versagen an ihr: Zeit zu verschwenden.

Zeitverschwenderin zu sein im Wissen, wie unglaublich wenig wir als menschliche Individualität davon haben werden, ist für mich ein Sakrileg. Wenn man statistisch Glück hat, sind es zwischen 70 und 90 Jahren im Mittel, die einem bleiben, sie zu nutzen. Es kann aber auch viel, viel weniger sein. Dass es (fast) niemand vorher weiß, ist wohl ein Segen. Aber Ausnahmen gibt es auch hier. Ich denke an jene Menschen, die unter einer tödlichen Krankheit leiden und schon früh wissen, dass sie vielleicht das 10. oder das 20. oder 30. Lebensjahr unmöglich erreichen können. Ja, manchmal gibt es Wunder. Aber die sind noch seltener als die Ausnahme von der Regel.

Zeitverschwenderin will ich keine sein. Dennoch brauche ich Pausen. Gedanken-Frei-Zeit… Gedanken-Ruhezeit. Gedanken-Schlafens-Zeit. Im Bett selbst hat man diese oftmals nicht. Denn wenn es dunkelt, kreisen Gedanken oft besonders wild. Um dies und das, diesen und jenen Menschen… Pläne, Ereignisse, Vorhaben, Verwerfungen, Problemlösungen… sie schießen im Dunkeln doch erst recht wie Pilze aus dem Boden.

Doch ich habe Glück. Ich kann trotzdem abschalten. Es gibt da doch drei bis vier völlig sinnleere und geistlose Tätigkeiten, in denen ich mich stundenweise verlieren kann. Dann bin ich fort. Wie entkörpert. Endlos weit weg von allem, was wichtig ist. Ich bin dann existenziell als physisches Wesen wie aufgelöst. Das geht mit kleinen Rechenknobeleien, wie Sudoku, aber auch mit dem Lösen von Kreuzworträtseln oder dem Legen von Patience. Alles sinnlos! Aber für mich so völlig entspannend, beides von mir selbst einmal wegführend. Wie wunderbar. Weg von mir selbst, weg vom Tod und weg vom Leben… hinein ins Zentrum des Nichts. Mein neuer, kurzfristiger Lebensmittelpunkt, fast ohne Leben.

Verschwende ich dann wertvolle Zeit? Ich glaube nicht. Sondern ich verdichte sie in einen Klumpen Un-Zeit, den ich später meinen sinnvollen Tätigkeiten im Kontext erlebter eit wieder zurückschenke. Dann konzentriere ich mich nämlich umso mehr, mache mein Ding, ziehe durch, was ich mir vorgenommen habe. Dafür war dieses Herumtrödeln wichtig und gut. Es ist eine Art Anlauf… ein Startschuss der Ruhe vor, nein, in den Sturm der Gedanken, die schon wieder in mir Schlange stehen, um geboren zu werden. Also tatsächlich ein höchst sinnerfüllter Unsinn einer scheinbaren Zeitverschwendung dem Höheren Sinn zuliebe.

Vielleicht verschwende ich dennoch Zeit? Auf eine andere Weise. Nichts ist ausgeschlossen, wenn es um unerkannte Fehlerquellen geht. Irgendwer wird es mir vielleicht einmal erklären. Ich möchte es schon wissen! Auch wenn es voll zu meinen Lasten geht. Wie sollte ich sonst lernen…?

Und Lernen, davon bin ich überzeugt, geht weiter. Weil, nach dem Tod beginnt das Neue. Zumindest für mich, die ich fest daran glaube. Der Tod ist die Brücke zur Ewigkeit, in der die Zeit, die so lieb gewonnene kurze, wenige, konzentrierte Zeit für Menschen in ihrem Menschsein, sich in allen Facetten zeigen darf. Und hinter jedem der vielen Tode lauert der Zauber des Neuen...

— 14. Juni 2022
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