Neujahrsmeditation

Gedanken über Herausforderungen im Leben von Christa Schyboll

»Man bekommt nicht mehr zugemutet, als man auch tragen kann.« Diese Anschauung ist alt, uralt und es gibt sie in vielerlei sprachlichen Nuancen, die letztlich alles das gleiche meinen. Meditiert man diese Aussage, so wird man erfahren, welch ungeheuer schöner Trost darin steckt. Das zu tun sei jedem Menschen anempfohlen.

Aber was ist denn, wenn man etwas nicht schicksalhaft tragen oder ertragen kann? Was ist mit den Verzweifelten, Gestrauchelten und all jenen, die nicht auf die Beine kommen? Und was ist erst mit den Selbstmördern, an denen dieser Trost doch ganz offenbar vollkommen vorbeigegangen ist?

Ich bin sicher: Sie kannten ihn nicht! Und selbst wenn sie diese Aussage schon einmal irgendwo gehört haben sollten, haben sie diese nicht wirklich verstanden, nicht integriert und nicht so tief in sich aufgenommen, dass ihnen die Kraft zur Veränderung ihrer Situation zur Verfügung stand.

Die allermeisten Menschen auf der Erde werden sich hin und wieder, viele sogar recht oft im Leben in Not oder Krisen befinden. Das sind die Phasen des Wachstums. Des über sich selbst Hinauswachsens. Diese Krisen mag niemand, aber wir brauchen sie trotzdem. Sie können äußerer Art sein, uns existenziell gefährdete Situation bescheren. Sie können auch im mitten im materiellen Wohlstand stattfinden und als schmerzhaft oder unerträglich erfahren werden: Ängste beispielsweise, woher sie auch immer kommen. Verlustängste, Todesängste, Ängste vor bestimmten Menschen oder vor Situationen, berufliche oder sonstige private Ängste. Ängste um die Kinder, die Eltern, die Gesundheit oder um sich selbst. Die Möglichkeiten sind immens, will man alle Facetten von Ängsten aufzählen.

Sie alle haben gemeinsam, dass wir zutiefst verunsichert werden, das Vertrauen zu uns selbst verlieren oder es nicht einmal stabil genug haben aufbauen können. Oft fehlt es auch an ausreichendem Rückhalt durch Mitmenschen, wo man so gern ein Teil seiner Angst abladen würde. Auch das klappt nicht immer. Und auf dem Höhepunkt seiner Angst ist man letztlich immer allein.

Aber ist man tatsächlich allein? Oder fühlt man sich nur allein?

Ist man in Angst oder Not, kommt die Gefahr der eigenen Betriebsblindheit mit hinzu. Auch die Gedankenklarheit ist oft nicht mehr ausreichend gegeben. Allein schon dadurch schneiden wir uns von vielen intelligenten Alternativen ab. Von Gefühlsklarheiten ganz zu schweigen. Die Gefühle sind meist das, was am stärksten zum inneren Chaos beiträgt. Niemand will dies, und dennoch passiert es uns allen hin und wieder.

Was ist zu tun? - Beispielsweise den Eingangssatz verstehen und meditieren. Das könnte aus dem Dilemma des inneren Chaos heraushelfen und zur Problemlösung führen. Dazu braucht es jedoch auch die Zuversicht, dass man diesen Satz ernst nimmt und er tatsächlich glaubhaft, glaub-würdig wird. Kann man ihn nicht in seiner wirklichkeitsverändernden Kraft erkennen und anerkennen, bleibt er so nutzlos wie jeder Trost, von wo immer er auch kommt.

Versteht und bejaht man ihn jedoch im Sinne eines gesunden Schicksalsvertrauens, dann passiert folgendes:

Man fühlt trotz aller akuten Verzweiflung eine neue Kraft in sich aufsteigen. Es ist eine uralte Kraft des Urvertrauens, das uns irgendwann einmal abhanden kam. Man begreift plötzlich, dass man trotz der momentanen Misere noch lange nicht verloren hat. Die innere Kreativität beginnt nach Alternativen zu suchen, die es fast immer gibt. Manchmal braucht es dafür die Sprengung der bisherigen Sichtweise. In solchen Fällen muss man sich vielleicht auch eine neue Haltung zum alten oder derzeitigen Problem aneignen. Eine mentale oder emotionale Zäsur ist dann zu vollziehen. Das ist nicht leicht, aber machbar. Doch man muss diesen Gedanken einer Haltungsänderung zum zur aktuellen Krise sich erst einmal entwickeln. Manchmal braucht es auch konkrete Taten im Außen. Ein Ortswechsel, ein Berufswechsel, ein Abschied? – Ereignisse, die vielleicht schwerfallen, aber im Einzelfall anstehen können, wenn andere Möglichkeiten ausgereizt sind.

Und immer wieder muss ins Gedächtnis gerufen werden, dass das Schicksal in aller Regel den Menschen nicht mehr zumutet, als sie auch tragen und ertragen können.

Ausnahmen sind Ausnahmen und keine Regel. Man ist gut beraten, sich hier auf den Regelfall zu besinnen, der in aller Regel eben auch gut ausgeht – und nicht den Blick auf jene Ausnahme richten, die an dieser ihnen gestellten Aufgaben scheiterten, weil sie die Wirklichkeit dieser Weisheit entweder noch nicht verstanden oder noch nicht ausreichend klug anwenden konnten.

Das Leben liebt die Lebenden. Deshalb lässt es sie oft auch in Zeiten von Krisen und Not überleben. Dass menschliches Leben aber irgendwann ein natürliches Ende hat, ist kein Dilemma, sondern Teil unserer natürlichen Ordnung, die wir akzeptieren lernen müssen. Und die natürliche Ordnung, das Schicksal, der göttliche Impuls – wie immer man diese Eingebundenheit in etwas Größeres auch bezeichnen mag - schützt uns alle gerne, weil es will, dass das Leben durch uns alle lebt.

— 02. Januar 2022
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