Ent-Lieben und Ent-Scheiden

Gedanken von Christa Schyboll

Die Liebe, so zeigt es uns die Wirklichkeit, ist ein ewiger Kampf, die uns zugleich eine Absurdität aufzeigt: Liebe sollte friedlich statt kriegerisch sein. Doch warum ist das alles so schwierig? Die Verliebtheit ist dabei ein kurzfristig geöffnetes Paradis, das Weichen für schicksalhafte Begegnungen stellt und uns zu einer reifen Form von Liebe verlocken soll. Ein weiter Weg.

Seit ein paar Jahren hat sich ein neuer Begriff in unser Leben geschlichen: Entlieben! ... Ent-Lieben? Geht das überhaupt? Kann denn eine Liebe tatsächlich ihrem Wesen nach ein Ende haben? Nach dem realen Erleben vieler Menschen geschieht es sogar recht häufig in der eigenen Biografie. Man verliebt sich zunächst. Die Zutaten sind so uralt wie das Menschengeschlecht: Sympathie, gegenseitig empfundene Attraktivität und diese geheimnisvolle Liebesmagie um die wichtigsten zu nennen. Kommen dann auch noch Hobbys, ethische, politische und sonstige Sichtweisen hinzu und passen sexuelle Vorlieben, Intellekt oder gesellschaftlicher Status perfekt zusammen, droht vorübergehend fast schon ein Verlustangst-Debakel angesichts dieser offenbar nicht enden wollenden Harmonie des Glücks, die uns der Himmel schickte.

Einen solchen Partner bekommt man niemals wieder! Das Schicksal erfüllt die kühnsten Wünsche. Alles ist perfekt. – Zunächst! Dann aber beginnen die Verliebten mit dem leisen Öffnen ihrer noch verklebten Augen, die noch ein wenig mit der Blindheit einer ersten Verliebtheit geschlagen sind. Sie blinzeln und ... "erkennen" sich gegenseitig in ihrer allzu durchschnittlichen Menschlichkeit.

Die kleinen Mängel werden nach und nach offenbar. Natürlich ist man immer noch heiß verliebt. Doch das erste himmlische Glück bekommt feine kleine Risse. Sie zeigen sich erst zart, dann immer deutlicher.

Wachsamen Beobachtern entgeht dabei nicht, dass zum Beispiel die Sache mit der gemeinsamen Zeit nach und nach ein wenig anders als zuvor gehandhabt wird. Bekam man in der ersten Zeit niemals genug vom Partner, stellen sich nun erste kleine Pausen ein. Die Dinge verschieben sich. Es zeigt sich eine neue Lust auf alte Freunde. "Wie", fragt sich einer der Partner, "reiche ich denn etwa nicht mehr aus? Sind die Freunde etwa wichtiger als ich."

Die Antwort ergibt sich unmissverständlich aus der Prioritätenverschiebung. Erste kleine Zeichen veränderter Gefühle. Die Wolken öffnen sich dann auch hin und wieder für heftigere Regengüsse, welche unbarmherzige Klarheit in die Welt der Verliebten spülen. Körperliche Mängel werden offenbar. Merkwürdig, dass man sie vorher nicht erkannte, wo sie doch jetzt so offensichtlich sind. Oder die Sache mit dem Geld. Nun ja, irgendwie spüren beide: Hier läuft etwas gegen den Strom. Ein Glück, dass man noch getrennte Kassen hat.

Wenn sich die Augen öffnen

Arg auch bei so manchem die Sache mit der Freiheit. Verliebte, die es ernst miteinander meinen und sich nach Nachhaltigkeit sehnen, kerkern sich nun häufig emotional zu zweit miteinander ein und fühlen sich wohl in dieser neu erschaffenen Behausung. Denn jetzt ist vor allem oder ausschließlich der Partner wichtig. Und wehe, man geht auf diesen ungeschriebenen Codex am Anfang einer Beziehung nicht ein. Damit begeht so mancher in klassischen Beziehungen bereits ein Sakrileg.

Die Augen öffnen sich mehr und mehr. Und was man sieht, ist nicht immer schön. Ent-liebt man sich nun? Und wenn ja, wie geschieht das eigentlich? Mehr offen oder schleichend, leise, bewusst oder unbewusst? Sobald das Maß der Mängel vom Idealbild eines erträumten Partners eine anstrengende Note bekommt, die zu viel an Kompromissen verlangt, wird es eng mit der Verliebtheit. Eine Zäsur steht an.

Diese Zäsur ist oft kompliziert. Denn es ist in vielen Fällen keinesfalls so, als wenn über Nacht schon alles miteinander aus wäre, nur weil sich die Augen auf mehr Klarsicht ausrichten. Auch das Ohr erlauscht Neues und kommt zu neuen Bewertungen. Die Nase wiederum steckt sich nun in Angelegenheiten des anderen hinein, die bis vor Wochen noch kein Thema waren. Die Liebesmagie ist noch vorhanden, ihre Flamme jedoch wird kleiner, schwächer. Womit erhält man die Flamme am Brennen, wenn die schmerzhafte Diskrepanz zwischen Wunschbild und Erwartungshaltung einerseits und der Lebenswirklichkeit des Partners andererseits nun der Sache der Liebe den Sauerstoff entzieht?

Soll man sich trennen? Oder soll man mit dem gemeinsamen Bau am inneren Partnerschaftshaus beginnen? Die Paare müssen es selbst entscheiden. Das Problem dabei: Der eine Partner würde vielleicht lieber jetzt gehen, weil sich der erste Reiz erschöpft hat. Der andere Partner glaubt an die Chance fürs Leben trotz all der offenbar werdenden gegenseitigen Mängel, weil er weiter schaut oder auch tiefere Gefühle hegt.

Die Trennung setzt sich nach meiner Erfahrung immer häufiger und schneller in einem solchen Fall eines Entscheidungsprozess durch - zumal auch dann, wenn keine existenziellen Verpflichtungen aneinander zwingend gegeben sind.

Und was passiert dann? Wiederholt sich das Spiel der Geschlechter denn nicht immer wieder aufs Neue im Wesentlichen? Hat man denn nicht beim nächsten oder übernächsten Partnerschaftsversuch nicht über kurz oder lang eine ähnliche Problematik, die gemeistert werden will? Nämlich jene, die da heißt: Wir alle zeigen uns doch über kurz oder lang unsere individuellen Mängel!?

Aus der Kraft der Gemeinsamkeit

Was ist die Alternative für die, die trotzdem bleiben? Die, die den Sprung in jene neue, bisher noch unbekannte Liebesqualität versuchen, deren Sprungbrett ausdrücklich die voll und bewusst geöffneten Augen für die Realität sind? Sie haben keine Garantien miteinander. Auch sie sind im freien Fall ihres gemeinsamen Schicksals mächtigen Kräften ausgesetzt, die ihnen in der Regel gleich eine Reihe von Krisen versprechen.

Krisen sind Chancen. Wir wissen es alle, weil wir sie ja erleben und zumeist auch überleben. Krisen sind Motoren für inneres Wachstum. Wir wachsen nicht in der Harmonie, sondern an der uns gestellten Aufgabe. Wir wachsen am Mangel des Partners - und umgekehrt. Wir wachsen, weil wir uns selbst etwas zumuten, aber uns selbst auch dem Partner zumuten. Wachsen ist für die Mutigen, die Durchhaltewilligen, die den Kampf um die Liebe aufnehmen.

Kampf und Liebe? Passt das? In der letzten Form einer transzendenten Liebe gibt es keinen Kampf mehr. Aber da ist fast niemand von uns. Wir sind allzu menschlich in diesen Dingen und haben in aller Regel noch sehr viel zu lernen. Begrüßen wir also den Mangel im Partner als unsere Chance. Begrüßen wir die Krise und lassen sie gerne wieder ziehen, wenn wir ihrer nicht mehr bedürfen, weil wir unsere Aufgabe wieder einmal im nächsten Teilschritt gemeistert haben. Begrüßen wir die Wachheit unseres Geistes und unseres Herzens, das eben nicht in der - wenngleich vorübergehend wunderschönen - Verliebtheit verbleiben will, kann und darf.

Verliebtheit ist ein kurzfristig geöffnetes Paradies von unendlicher Wichtigkeit für uns alle. Es stellt die Weichen für schicksalhafte Begegnungen, die das Geheimnis der individuellen Anziehung bergen, um den richtigen Partner zu finden, der uns in unserer Entwicklung auch ausgerechnet durch sein Sosein fördern kann. Aber Verliebtheit ist zugleich auch nur Sprungbrett fürs Wesentliche. Sie ist ein Eingangstor, das nur eine kurze Verweildauer im Leben gewährt. Sie lockt uns zur Liebe, wo Reife und Freiheit in ganz anderer Weise wohnen, wenn wir uns dafür entscheiden.

Leicht ist dabei nichts. Freude, Glück und nachhaltige Erfüllung jedoch locken, wenn wir begreifen, dass die Entscheidung für den Kampf um Liebe und Entwicklung uns auch frei machen kann.

— 10. Januar 2015
 Top