Liebe dich selbst und vergiß deinen Nächsten… zunächst!

Gedanken über einen Unort, wo die Liebe nicht Wurzeln schlagen mag, von Christa Schyboll

Die Bibel beschwört uns gleich an mehrfachen Stellen, unseren Herrn und Gott zu lieben. Man lese erinnernd Matthäus, 22,34-40 oder Moses 6,5.

Nun haben aber viele Menschen keinen Herrn und Gott mehr, der ihnen sonderlich liebenswert oder irgendwie so bekannt ist, dass eine konkrete Liebe lebbar wäre.

Diese Gruppe Menschen könnte dann alternativ den Nächsten lieben, wozu wir Menschen ja ebenfalls aufgerufen sind. Quasi an Gottes Statt. Das hört sich für viele Zeitgenossen zumindest handfester an. Das Liebesobjekt ist dann wählbar, erlebbar und sichtbar zugleich. Und die geschenkte Zuneigung kann auch schnell wieder gekappt werden, so sich der Nächste nicht als sonderlich liebenswert darstellt. Im Gegenteil, genauer man ihn kennen lernt, mit ihm verbandelt, verschmolzen und vereinigt ist, stellt sich die Sache mit der Liebe schon wieder als problematisch heraus. Warum?

Der Nächste ist oftmals schlicht und einfach unerträglich, so man mit ihm jene Grenzregion betritt, die die eigenen Freiheiten tangiert. Umgekehrt gilt in der Regel das gleiche. Oder man denke an den konkreten Schmerz durch die Unvereinbarkeit persönlich wichtiger Wesenszüge und Charaktereigenschaften. Erlebt man den Nächsten im Konfliktfall dann bärbeißig, biestig, egoistisch oder innerlich verkommen, dann ist es nicht nur mit der Nächstenliebe aus, sondern man steht in Gefahr, der inneren Giftinjektion anheim zu fallen, die durch das gemeinsam Erlebte nun ihre volle Gefahr entfaltet. Wut, Zorn, Ärger - Hass! Je nach Vorkommnis und Heftigkeit, Naturell und Temperament. Und dann steht man unter Umständen mit leeren Händen da. Keiner, der es mehr wert ist, geliebt zu werden. Jeder Nächste aber, der beim Tiefentauchgang in die Seelenlandschaft seine pechschwarzen Abgründe früher oder später offenbart. Ein Unort, wo die Liebe einfach nicht Wurzeln schlagen will. Vorbei die Zeit des Irrens, die ein Sein vorgaukelte, dass mit den durchaus realen netten Seiten aber eben nur einen Bruchteil des wahren Charakters offenbarte.

Liebe deinen nächsten wie dich selbst! Also warum nicht mit sich selbst neu anfangen! Warum nicht genau hinschauen, ob man selbst denn schon dauerhaft liebenswert ist. Ob man es ist, nur weil man lebt und Mensch ist? Oder ob man es ist, weil man diese oder jene Eigenschaft schon hat? Träger ist von sozialer Kompetenz und Intelligenz? Oder ob man liebenswert ist trotz der eigenen Abgründe, die zwar vielen Zeitgenossen klar vor Augen stehen, aber die man selbst geflissentlich übersieht in der Betriebsblindheit der Eigenanschauung. Oder ist man am Ende selbst Teil jenes schauerlichen Schattens, den die anderen werfen? Und wird er vielleicht nur deshalb als so dunkel erlebt wird, weil man selbst unwillentlich den perfekten Resonanzboden dafür bereits geschaffen hat?

Jeder Liebesfall und -unfall mag anders liegen. Sich im Zweifelsfall aber selbst auf unegoistische und nicht narzisstische Weise auf neue Weise gern zu haben, sich selbst zu lieben und tief akzeptieren zu lernen ist wohl ein erster Schritt, der uns der Liebe zum Nächsten wieder näher bringen kann. Und wer dann will und kann, möge seine Liebeskraft erweitern. Grenzen sind meines Wissens da nicht vorgesehen…

— 03. August 2010
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