Liebe und Zeitmanagement

Der moderne Mensch und sein Kalkül. Von Christa Schyboll

Der Mensch der Gegenwart lebt im Dauer-Stress. Zeit zu haben ist nur etwas für Rentner, Pensionäre, Gurus und Teilnehmern eines esoterischen Entschleunigungskurses. Viele Kinder kennen Zeit-haben auch nicht mehr. Auch sie sind oft früh verplant und wachsen als Terminopfer in ein noch verplanteres Erwachsenen-Leben. Sie kennen es nicht mehr anders.

In solchen Zeiten sich auch noch Zeit für ruhige Beziehungs-Experimente zu nehmen, die sich am Ende doch wieder einmal als unnütz oder erfolglos erweisen, raubt die fast wertvollste Ressource, die ein Mensch überhaupt besitzt. Dabei ist bei solchen Sympathie- oder Liebes-Experimenten jetzt nicht der angenehme Zufallsflirt gemeint. Dieser kann sich natürlich hin und wieder einmal locker irgendwo im Zufallsraum des Lebens ergeben und so schön sein, dass die gemeinsam erlebten Momente sich kurzfristig in die Ewigkeit verabschieden und später in den Gardinen der Lebenserinnerungen hausen.

Gemeint sind die ernsthaften Suchen, die gern auch etwas Dauerhaftes versprechen. Also den heimlichen Traumprinzen oder die Göttin. Und wenn für solche Ziele schon zwischenmenschliche Experimente notwendig sind, dann doch bitte mit minimalem Risiko. Der Zeitaufwand dafür muss sich unter dem Strich lohnen. Also keine Zeitverschwendung bei der Partnersuche nach dem alten Muster: „Zwei Menschen treffen sich … und, man staune!, wissen noch nichts voneinander.“ Das ist nicht nur nicht zeitgemäß, sondern fast schon idiotisch in Zeiten, wo es doch anders geht. Der Ganzheitsscanner Internet besorgt es doch. Man muss sich nur einlassen.

Zwischenmenschliches Scheitern kennt man doch zur Genüge. Und man weiß, wie schnell es schon wieder schief gehen kann, wenn man es nicht endlich in Sachen Liebe intelligenter und kalkulierter eingeht. Wozu gibt es schließlich Empirie und Statistik, wozu astrologische Horoskope und Partnerschaftsbörsen. Sollen all diese schönen Erfindungen denn zum Teufel sein – und man selbst geht am Ende schon wieder leer aus? Das klingt alles unromantisch!? Na, das mit der Romantik wird man doch wohl in Zeiten der Perfektion auch noch organisiert bekommen. Selbst dafür gibt es Spezialfirmen und Events, falls sie sich tatsächlich noch einstellen sollte. Jedenfalls sollte das Auffinden des ersehnten Glücks mit einem anderen Menschen nicht durch zu viel lästige Sucherei verwässert werden, damit man mit ausreichend vielen in die Tests starten und diese auch terminlich managen kann.

Eine kleine mathematische Überschlags-Rechnung: Wie oft müsste man wohl, vor allem im vorgerückten Alter jenseits der Dreißig, z. B. eine geeignete Kneipe aufsuchen, um einen waschechten Single mit der Absicht einer Beziehung entdecken, der dann aber auch noch sowohl vom Alter, der Bildung, dem Status, dem Aussehen und weiteren Schnittmengen passt und man zudem selbst ebenfalls seinem Idealbild halbwegs entspricht? Kleine Kompromissformeln gerne schon mit eingerechnet. Bei dieser theoretischen Kalkulation ahnt auch ein durchweg positiv gesinnter Mensch um die geringen Chancen der schwierigen Formel fürs Gelingen der Liebe.

Die "Kneipe" der Vergangenheit heißt Chatroom. Hier regnet und schneit es nicht. Hier ist es warm und gemütlich und man kann die potenzielle Liebste sogar im Schlafanzug und Latschen empfangen. Denn das Bild, das man sendet, darf ein anderes sein. Jedes. Auch das eines fremden Menschen. Umgekehrt ebenso. Zunächst spielt es keine Rolle. Später die entscheidende.

Heißt das, mag nun jemand aus der älteren Generation ungläubig fragen, dass die alte klassische Form des Kennenlernens vollkommen passé ist? Nein, aber sie wird immer seltener. Bald wird sie exotisch sein. So selten wie die aussterbenden Menschenaffen im afrikanischen Busch.

Die Sache mit der Zeit, dem Druck, dem Stress, dem Kalkül, den technischen Möglichkeiten ist eine so neuartige Symbiose miteinander in Sachen geplante und kalkulierte Liebe eingegangen, dass der darin versponnene Mensch wie die Fliege im Netz der Spinne zappelt.

Dennoch: Es kann klappen, gut gehen, ideal sein, zum ganz persönlichen Glück führen. Denn das Glück und die Liebe stehen über dem technischen Firlefanz des Menschen und seinem krankhaften Verhältnis zum Thema Zeit.

— 06. Mai 2014
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