Liebende

Aufhebung des Raumes in einer Nichtzeit - von Christa Schyboll

Liebende? Vielleicht fallen Ihnen dazu spontan Bilder von Gustav Klimt ein? Oder denken Sie an Nele und Richy aus der Nachbarschaft, die derzeit aneinander kleben, als seien sie zu eineiigen Zwillingen verschmolzen.

Nicht selten wird man beim Anblick von Liebenden spontan berührt. Das Herz geht auf – … und wieder zu. Denn schnell schaltet sich der Verstand und sagt: „Ja, ja…. Alles ist sehr schnell auch wieder vorbei!“ Immerhin befand man sich schon selbst einmal oder auch häufiger in dieser Rolle und weiß, um die Schönheit solcher Zeiten, die einzigartig wie flüchtig zu gleich sind. Sie zu wiederholen, wird eine lebenslange Sehnsucht bei den meisten bleiben. Nicht selten in späteren Jahren jedoch auch ungestillt.

Dennoch rührt dieses Ineinanderfallen der Liebenden an den eigenen Festen, die keinen dritten in der Regel in diesen Bannkreis ihres Mysteriums treten lassen. Wie lange sie sich lieben werden, weiß niemand. Auch sie selbst wissen es nicht und wollen es zum Glück auch nicht wissen. Ihr Zustand ist in einem Stadium, das fernab von jenen Überlegungen steht, die schon mit Dauer zu tun haben. Jetzt ist Nichtzeit. Ist reine Liebeszeit.

Liebende haben vorübergehend andere Eigenschaften als der Durchschnittsmensch an sich, der sich gerade nicht im akuten Liebesstadium befindet. So verfallen Sie zum Beispiel nicht der Unart, ständig alles auszudiskutieren zu müssen, was keineswegs klar ist. Man kann die Unklarheit durchaus gut aushalten. Sie ist unwichtig, die Prioritäten haben sich radikal verschoben. Kompromisse sind ebenfalls kein Problem und überhaupt ist der ganze Organismus ein Hort beständiger Großherzigkeit. Wie wunderbar kann man über kleine und größere Macken hinweg sehen, kann Verspätungen entschuldigen – die Hauptsache ist nur, die Liebe hat Raum… Raum in einem Nichtraum, der die Welten spaltet und den Liebenden vorübergehend ein ganz eigenes Universum schenkt. Das ist von einer Art, welches bis in biologische Veränderung von Herzfrequenz oder Stimme reicht. Das Kleines größer erscheinen lässt und Zufriedenheit auf Gesichter malt, die man immerzu anschauen möchte. Eine Welt in der Welt, eine Unendlichkeit, die zumeist erschreckend kurz ist.

Der Zweifel kommt später. Dann setzen auch Kontrolle und Diskussion ein. Keinem bleibt es erspart. Später häufig die Trennung. Die Welt der Liebe ist wieder zusammengefallen. Das Universum der Verschmelzung hat sich entleert in einen schnöden Alltag voller Probleme. Dabei war alles so schön für die Liebenden. So eroberungswürdig erschien die Erde… und nun kämpft man um den letzten Cent oder die letzten Stunden echter Freiheit.

Ein Traum wurde wahr… und zerrann. Was nur läuft immer schief, dass es nicht hält? Warum verändern sich beide so schnell in Wesen, die nun wieder ebenso schrecklich durchschnittlich sind wie der Rest der Menschheit? Viele bekommen eine zweite und dritte Chance… Noch mehr jedoch begreifen leider nicht, dass sie als wirklich Liebende eine immerwährende Chance haben. Sie müssen nur begreifen, um was es wirklich geht. Und dieses Begreifen braucht nach dem furiosen Start der Verzückung den Alltag als Bewährung und Krönung zugleich.

— 17. November 2010
 Top