Augen zu!...

und volle Klarsicht in der Dunkelheit der Möglichkeiten, meint Christa Schyboll

Irgendwie ist es merkwürdig. Einerseits sind wir alle froh und dankbar, dass irgendwann einmal nicht nur Penizillin erfunden wurde, sondern auch gleich eine ganze Reihe anderer Medikamente und Impfstoffe, die die Sterblichkeit ach so vieler Krankheiten endlich weltweit senkten. Andererseits hat sich weltweit eine regelrechte Krankheitsindustrie etabliert, ohne die nichts läuft.

Die Reihe wirksamer Mittel aufzuzählen würde lange dauern. Und fraglos ist es so, dass damit massenhaft viele Menschen gerettet werden konnten. Aber dann traten völlig neue Krankheiten auf. Teils als Mutanten alter, längst überwunden geglaubter Krankheiten, aber auch ganz neuartige Leiden, die die schöne Bilanz schnell wieder mit überaus hässlichen Flecken zierte.

Hier wird geheilt und da wird doch wieder weiter gestorben… wie eh und je. Ein zwar natürlicher Kreislauf, aber einer mit sehr verschiedener Dynamik in unterschiedlichen Epochen und ihren jeweiligen Bedingungen.

Da die Menschheit insgesamt aber anwuchs – wir sind bald 8 Milliarden auf der Erde – müsste man sagen: Wohlan! Die Sache hat geklappt. Die moderne Medizin hat über die alten Krankheiten trotz allem gesiegt.

Ist das so? Man muss schon ziemlich schräg hinschauen, wenn man das so behauptet. Am besten macht man dabei ganz feste beide Augen zu. Dann sieht man vielleicht klarer in der Dunkelheit, von der ich gerade spreche. Denn was vor allem auch in einem ungeheuer großen Maß zunahm, waren nicht nur die Operationen (die Leben retteten), sondern auch die Gigatonnen von Medikamenten, die zugleich aber wieder neue andersartige Formen des Krankseins erschufen: Die Krankheiten der Nebenwirkungen, die der Folgen, die die Krankheitsindustrie vortrefflich am Laufen halten.

Treiben wir den Teufel mit dem Beelzebub aus? Bleibt alles in allem der Schrecken der Endlichkeit, weil der Planet sonst eh bersten würde?

Ich hätte gern belastbares Material in Zahlen hier dokumentiert. Aber das ist nicht ganz so einfach, weil es immer dabei auch um die Fragestellung geht, die wiederum eine gewisse Raffinesse durch Eingrenzung und Ausbuchtungsdellen bekommen kann. Dennoch: Für Zahlenliebhaber gibt es die WHO-Statistiken abrufbereit auf der WHO-Seite, die den Platz hier sprengen würde.

Der Kern der Frage bleibt: Sind wir gesünder als je zu vor, nur weil wir im Schnitt älter werden? Wie ist die Lebensqualität zu bemessen? Auch die Frage nach dem Glück, das ein jeder anders definiert, ist viel diffiziler zu stellen, als es im globalen Glücksatlas seinen Niederschlag findet. Und was die 8 Milliarden angeht: Steigt mit der Anzahl der Menschen nicht auch real und statistisch eben auch die Not… und auch der Tod? Wieso sonst gibt es so viele Millionen Flüchtlinge auf Wanderbewegungen, wenn doch alles in toto besser wird?

Was eigentlich wird wo, wann, warum wirklich "besser" …? Oder nur anders, zeitgemäßer, dekadenter, verwöhnter – bei zugleich auch größerer Verelendung und Verarmung, die man dem periodisch hin und her schwappenden Reichtum auf Gottes wohlbestellter Erde auch mit bilanzieren muss?

Man gerät sehr schnell in eine trügerische Sichtweise, weil jede Epoche ihre Qualitäten schon anders definiert. Ebenso jene des Älterwerdens als Maßstab für mehr Wohlbefinden und Volksgesundheit im Allgemeinen. Man befrage mal viele ältere Menschen (jenseits der 80 oder 90 – teils behindert, schwerkrank, pflegebedürftig, abhängig, bettlägerig), ob sie nicht eigentlich längst hätten "gehen wollen" – würden sie da nicht von den Möglichkeiten der Medizin künstlich am Leben erhalten. Aber sterben lassen, will man doch niemanden, wenn man ihn retten kann! Ja klar…

... aber es ist zu fragen: In was hinein "retten" wir so viele Menschen im hohen Alter, die auf natürliche Weise bald sterben müssen? In immer längeres Siechtum? Immer längere Phasen starker Schmerzen, die mit immer stärkerer Dosis beantwortet werden muss? Mit Widerwillen akzeptiert oder mit schwachem Willen hingenommen?... Und was wäre denn die Alternative? Kann sie nicht immer nur individuell ausfallen, weil auch alte Menschen teils am Leben und ihren Lieben hängen – teils sich endlich nach Ruhe und Frieden sehnen? Und teils auch zwischen beiden Möglichkeiten so unentschlossen bleiben?

Die Frage nach der Definition von Gesundheit und Lebensqualität ist enorm diffizil. Ich höre oft: Gesundheit ist das Wichtigste überhaupt! -Hauptsache gesund! --- Da muss ich oft lachen!

Weil: Man befrage mal viele Kranke, ob sie tatsächlich ihre ganz persönliche Krankheit (Unpässlichkeit, Probleme) gegen so manch eine Proppervollgesundheit tauschen würden, wenn ihnen dafür beispielsweise ihre Fantasie, Kreativität, Arbeitslust, Lebensintensität genommen würde, die sie in manchen Fällen nicht nur mitsamt ihren Krankheiten haben, sondern manchmal auch sogar aufgrund dessen - oftmals das alles noch viel stärker als viele Gesunde um sie herum?

Allerdings: Man kann auch beides so oder so haben … und beides nicht. Denn der Umkehrschluss greift nicht automatisch: Nämlich der, nun festzustellen, dass es doch auch sehr viele Gesunde gibt, die über einen fantastischen Status an Energie, Blutfettwerten, Gewicht, Blutdruck und allem anderem Pipapo verfügen – und dennoch ein erfahrungsarmes, langweiliges, tristes Leben führen – weil sie nun einmal sind wie sie sind, trotz und mit ihrer Gesundheit, und deshalb nun wiederum aus anderem Blickwinkel eine "schlechtere" Lebensqualität haben als so manch ein Kranker, der zwar gern gesund wäre, aber dennoch über ein Höchstmaß an anderer Lebensqualität verfügt.

Ob Gesundheit oder Krankheit, jung oder alt sterben, arm oder reich leben immer jeweils die glücklichere Variante ist, hängt vor allem vom Einzelschicksal und seinem Träger ab, der aus einer großen Palette seine individuelle Lebensgrundhaltung selbst verantwortungsvoll gestalten muss… Gesund oder krank, reich oder arm, jung oder alt.

Die Sache, man liest es, ist kompliziert. Man muss sich nur tief genug hineindenken und -fühlen und ganz feste die Augen schließen, um in der Dunkelheit klarer zu sehen.

— 13. Juni 2022
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