Urteilskraft und Meinung

Über die komplizierte Sache mit der kompetenten Meinungsbildung. Von Christa Schyboll

Eine Reihe spiritueller Lehren rät: Urteile nicht! Doch wie um Himmels Willen soll das gehen, wenn man sich ständig entscheiden muss? Ist man denn nicht laufend gezwungen, sich für oder gegen etwas zu entscheiden? Etwas zu tun oder zu lassen?

Uns bleibt doch gar nichts anderes übrig, als das eine zu verwerfen und das andere anzunehmen. Und das braucht unser Urteil.

Was wir jedoch nicht müssen, ist ständig schnell und automatisch etwas oder wen ver-urteilen. Das geschieht häufiger als wir ahnen. Vor allem blitzschnell, aus dem Bauch heraus und oftmals ohne echte Kompetenz, die wir uns aber dennoch anmaßen. Hier liegt der Hase im Pfeffer! Aber wir übersehen dabei leider oftmals den Hasen, noch sticht uns schon der Pfeffer in der Nase!

Es gibt ein altes Indianersprichwort: "Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist". Vermutlich reicht aber auch die Zeit eines Mondes nicht einmal wirklich dafür aus. Will man zu einem wirklich gereiften Urteil über eine Person, eine Sache oder ein Ereignis gelangen, muss man in vielen Fällen sogar enorm viel wissen, wenn man zu einem gerechten Urteil kommen will. Diese Zeit nimmt sich unser Ego häufig aber nicht. Es urteilt nach einem schnellen Eindruck, nach spontanen Gefühlen oder nach alten Prägungen, die uns sympathisch oder antipathisch ansprechen. Dieses Schnellurteil über etwas oder jemanden kann hässliche Eintrübungen zeigen oder auch je nach Fall sogar schwerwiegende Konsequenzen auslösen. Diese haben wir dann zu verantworten, die schnell ein Urteil gesprochen haben. Ein Urteil kann in diesem Fall auch eine Meinung sein, die dennoch zerstörerischen Charakter tragen kann, wenn sie das Falsche oder das Böse im Keim schon mit trägt.

Urteilskraft braucht Geistesklarheit. Sie braucht Informationen, Wissen und im Falle von Mitmenschen auch jede Menge Empathie. Es braucht die Entwicklung von Fairness, Überblick und reicher Lebenserfahrung. Es braucht die Innenreinigung der eigenen Gedanken, die klar aufzeigen, von welchen Motiven man denn gelenkt wird, wenn man ein Urteil fällt. Anzunehmen, das seien ausschließlich sachliche Motive, trifft es nur in wenigen Fällen. Man hat für sich selbst innerlich zu klären, ob beispielsweise vielleicht auch ein wenig versteckter Neid mit im Spiel ist. Ob es gerade eine tiefe Befriedigung bedeutet, etwas Negatives über einen anderen zu sagen und damit vor allem für einen Moment doch der eigenen inneren Tristesse zu entkommen. Es kann sich Missgunst eingeschlichen haben oder auch ein peinliche Angst, zu der man nicht öffentlich stehen will. Es gibt viele Gründe, warum wir in dem einen Fall hart und in einem ähnlich gelagerten Fall sehr mild über etwas urteilen. Hintergründige Motive, die unter Umständen mehr mit uns selbst zu tun haben als über denjenigen, den es nun trifft.

Um eine Meinungsbildung kommen wir nicht herum. Das ist auch gut so. Es ist eine der vielen Reifechancen, die uns das Leben bietet. Aufgrund unserer Urteile ist unter anderem auch zu erkennen, wie grob oder fein auch unsere eigene Entwicklung schon Wege geht und Auswege aus einem Dilemma weiß. Wir bewegen uns beim Urteil und einer Meinungsbildung in einem gedanklichen Spannungsfeld, das Geist und Gefühl anspricht und uns immer wieder neu vor allem komplizierte Ambivalenzen beschert. Je analytischer wir vorgehen, umso mehr sehen wir, wie verschachtelt Situationen und menschliche Handlungen sein können, die keineswegs immer leicht in die Schublade von richtig oder falsch, gut oder böse passen. Ungerechtigkeiten können die Folgen sein, wenn wir da nicht wachsam sind. Vor allem dann, wenn man blindwütig aus dem Bauch heraus schießt und eine Gedankenkontrolle außer Acht lässt. Doch das Leben ist kompliziert. In manchen Fällen ist es aber auch genau die nicht kontrollierte Spontanität, die erforderlich ist. Was denn nun? Beides kann sinnvoll und falsch sein. Es kommt auf den Einzelfall an und die damit verquickten Personen.

Generell aber gilt: eine geordnete, gut strukturierte Gedankenkontrolle zu entwickeln, ist sinnvoll für die wachsende Kompetenz in Sachen wahrer Urteilskraft. Geht diese mentale Disziplinübung ins Blut über, so kann man ziemlich getrost darauf vertrauen, dass unkontrollierte, spontane Einwürfe und Aussage dennoch den Kern des Geschehens treffen. Denn eine so strukturierte Persönlichkeit wird damit wesentlich seltener einen Fehler begehen als ein undisziplinierter Choleriker, der nicht nur seine Zunge nicht im Zaum hat, sondern auch nicht seine galoppierenden Gedanken oder seine quer schießenden Gefühle, die er liebend gern blitzschnell herausballert.

Urteile und Meinungsbildungen sind Interpretationen eines Bewusstseins auf seinem eigenen Level. Aber Urteile sind eben auch Wirklichkeit schaffend. Lange schon ist bekannt, dass die Realität den Gedanken folgt, die wir erzeugen. Das sind gute Gründe, jede Form von Urteil, aber erst recht eine Ver-Urteilung, überaus ernst zu nehmen. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jedes Wort ist von jedem einzelnen von uns zu verantworten. Wie wörtlich das zu nehmen ist, weiß man aber erst wohl ab einem gewissen inneren Entwicklungsstand auf der nach oben offenen Skala eines sich ständig erweiterten Bewusstseins.

— 21. August 2013
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