Wie ein Fähnchen im Winde…?

Über den holprigen Weg von Meinung zur neuen Erkenntnis schreibt Christa Schyboll

Irgendwer fragt dich um deine Meinung. Will wissen, was du denkst. Will dich und die Sache, um die es geht, besser kennen lernen. Und nun fragt er dich. Egal, wozu. Such dir ein Thema aus. Am besten eines, wo du dich schon ein klein wenig sicher fühlst.

Du bist gespannt auf die Frage. Im Moment ist sie zwar nur imaginär, weil wir hier ein wenig spielen. Aber was hier Spiel ist, kann morgen ja auch ernst sein. Sei es in der Familie, unter Freunden, auf der Arbeitsstelle.

Die Frage kommt. Sie ist verständlich formuliert. Die Sache scheint einfach. Du kennst dich aus. Du antwortest. Der Fragesteller zieht die Augenbrauen hoch. Ach, so siehst du das? Ja. Sagst du. Im vollen Brustton der Überzeugung. Weil… Und dann argumentierst du.

Natürlich kannst du das. Bist ja nicht blöd. Bist gut informiert. Es wird schon seinen Grund haben, warum man ausgerechnet dich fragt. Das aber denkst du nur. Das sagst du nicht. Das wäre peinlich. Obschon. Wieso eigentlich? Darf man dann nicht kompetent in einer Sache sein und offen dazu stehen?

Die Sache scheint gegessen. Wochen später wird das Gespräch nochmals reflektiert. In der Zwischenzeit ist aber einiges geschehen. Denn deine Antworten haben Eindruck hinterlassen. Das konnte man wahrnehmen. Aber gerade dieser Eindruck war es, der dich selbst innehalten ließ. Wieso? Weil du auf der Suche nach einer noch besseren, treffenderen Antwort suchtest? Weil du dich selbst hinterfragtest? Plötzlich warst du selbst dir nicht mehr gut genug.

Und dann passierte es. Das eigentlich Undenkbare. Du machtest eine Kehrtwendung in der Sache. Denn dir fielen nicht nur mehr Argumente für die eigene Argumentation ein, sondern plötzlich auch immer mehr Gegenargumente, wie man es aber auch sehen könnte. Was alles noch zu beachten ist. Ob es nun einem selbst passt oder nicht. Darum geht es doch nicht, wenn es ums Denken geht. Denn man kann fast alles von sehr verschiedenen Seiten aus betrachten. Man muss seinen Grips halt nur etwas anstrengen. Vor allem darf man sich auf dem bisherigen Wissen nicht ausruhen. Man muss die Sache tiefer denken. Weiter. Ja, auch quer – aller Querdenkerei zum Trotz. Was dabei herauskommt, hängt von der Güte des Denkens an sich ab. Es geht um deine Denkqualität.

So. Und nun seid ihr wieder zusammen. Sprecht über das Thema erneut. Nun bist du anderer Ansicht. Ein großes Staunen erfüllt den Raum. Ei, wie das? Wieso die Kehrtwende? Das hörte sich doch alles letztens so schlüssig an. Und nun? Mal so, mal so? Wie ein Fähnchen im Winde? Welch merkwürdiger Luftzug zog da durch dein Gehirn?... Wie soll man sich denn auf dich verlassen, wenn du mal so und mal so argumentierst?

Berechtigte Fragen.

Du hast einen Prozess mitgemacht. Die anderen wissen nichts davon. Du hast neue Erkenntnisse bekommen. Diese Erkenntnisse zwingen dich geradezu, deine Meinung zu ändern. Nein, es ist eben nicht wie das Fähnchen im Wind ein beliebiges gedankliches Flattern, sondern jetzt hast du eine größere Urteilskompetenz als zuvor. Das sollte dir gefallen. Ob es die letzte Variante ist, bleibt offen. Denn du stehst, wo du stehst. Neue Schritte in noch tiefere Erkenntnis müssen neu vollzogen werden.

Antwort auf die berechtigten Fragen: Verlass dich niemals auf mich! Verlass dich auf dich selbst! Aber qualifizier dich auch dafür! Zum Beispiel in dem du immer auch das Gegenteil mit bedenkst, von dem, was du gerade bedenkst. Denk es anders, denk es neu. Bleib offen in deinem Urteil. Überlege, ob du alle Sichtweisen, die dir möglich sind, schon einbezogen hast. Oder hast du nur nach Sympathie oder Antipathie geantwortet?

Verlass dich auf dich selbst, wenn du Antworten bei anderen suchst. Andere sind anders als du. Eure Welten sind verschiedener als du glaubst. Auch während eines gemeinsamen Ereignisses, das ihr erlebt.

Das macht Menschsein so spannend!

— 20. Juni 2022
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