Das Dilemma der Moral-Frage im Krieg

Sind wir feige oder todesmutig, fragt Christa Schyboll

Wer die Selenskyj-Reden des ukrainischen Präsidenten im aktuellen Krieg mit Russland verfolgt, kann unter Umständen schnell ins Hyperventilieren kommen. Sind wir Deutschen ein Volk von Feiglingen, Drückebergern, Erbenzählern oder noch viel übleren Gestalten? Haben wir nur den Schutz und das Bewahren unseres Reichtums im Sinn, unsere Wirtschaft, unsere Prosperität? - Wie schön wäre es, wenn es darauf ein so ganz eindeutiges Nein geben könnte!

Die Sache ist kompliziert. Ist Moral kompliziert? Die einen sagen: Ja! Die anderen sagen: Niemals! Moral ist Moral. Die einen meinen: Sind viele Tote denn besser als weniger Tote - wenn es beispielsweise zum Dritten Weltkrieg käme und nicht »nur« die Ukraine das Schlachtfeld würde, sondern eventuell große Teile Europas? Ist oder wäre das besser? -- Die anderen meinen zu Recht: Ja, ist es denn besser, wenn man die Hilflosen opfert, sie im Stich lässt oder halt nur so unzureichend hilft, dass es ihnen kaum oder nicht hilft?

Ist der, der die Moral hochhält, der bessere Mensch, weil er todesmutig und radikal alles in Kauf nimmt? Oder ist der, der an die noch größeren Opfer denkt und selbst dabei auch seine Haut evtl. retten kann, letztlich auf der richtigen Seite - auch dann, wenn halt Opfer nicht zu vermeiden sind?

Wann ist man feige? Wann ist man mutig? Wie todesmutig haben wir alle zu sein? Wer argumentiert so oder so auch aus sehr egoistischen Gründen, aus eigener Lebensangst?... Zählt noch der Mensch, das Menschliche, wenn das Unmenschliche plötzlich real als Möglichkeit an der eigenen Haustür klingelt - und nicht nur eine politische Theorie oder Utopie ist?

Das Recht auf Verteidigung des Lebens hat jeder Mensch, der angegriffen wird. Muss man ihm in jedem Fall beistehen? Müsste man dann nicht in noch viel mehr Konflikte eingreifen? Inwieweit haben wir mit den Konflikten anderer Länder eigentlich alles, viel, wenig oder gar nichts zu tun?

Es schmerzt fast schon physisch, dass man eine solch wichtige Frage der Menschlichkeit überhaupt mit Fragezeichen versehen muss. Aber wer nur ein einziges individuelles Leben zur Verfügung hat, dazu Menschen um sich, die man liebt und die die eigene Hilfe brauchen, ist es mit dem Todesmut und der Todesbereitschaft leider nicht so gut bestellt, wie es die Moral-Frage vielleicht impliziert.

Doch Hand aufs Herz! Wer hat hierauf die einzig gültige Antwort? Oder gibt es auch Mehrfachantworten mit der gleichen moralischen Gültigkeit? Ist Moral teilbar? Ist sie eine Frage von Blickwinkel? Wer schaut dann aus welchen Motiven in welche Richtung und in welche nicht? Und wie sauber, edel sind dann diese Motive?

Was bleibt, ist ein Dilemma…

Die Schöpfung oder wer oder was immer uns erschaffen hat, entlässt niemanden hier aus seiner eigenen Verantwortung!

— 22. März 2022
 Top