Schulnoten

Motivationshemmer oder Motivationsförderung?, hinterfragt Christa Schyboll

Der Mensch misst sich gern am anderen Menschen. Und natürlich freut er sich, wenn er dabei gut abschneidet. Um dieses Abschneiden zu dokumentieren, gibt es Zensuren. Überall im Leben.

Früh fängt es an. Bei Krabbelkindern gibt es schon heimliche Bewertungen, die die meisten Kinder zum Glück noch nicht so recht verstehen. Wer krabbelt oder brabbelt besser, schneller, mehr? Wer kann früher laufen, wer sicherer und wer kann schon in ganzen Sätzen sprechen? Kinder, die früh etwas können, was die Eltern stolz macht, werden gelobt. Gelobt werden ist schön. Also strengen sich manche dafür besonders an und lernen früh, dass man für Lob, Dank oder Geschenke etwas tun muss. Umsonst gibt es nichts.

In der Schule geht’s dann spätestens auch für den letzten Knirps los, der vielleicht noch seine Kindheit in der Glückseligkeit von Nichtzensur spielend verbringen durfte. Hier kommen die Noten ins Spiel. Zwar wurden in den Grundschulen die Noten in Zahlen zugunsten einer schriftlichen Beurteilung endlich abgeschafft, aber es bleibt dennoch im Grunde das Gleiche, wenngleich mit menschenfreundlicheren Eigenschaften, die differenzierter hinzuschauen vermögen. Kurze Zeit später ist dies jedoch wieder vorbei. Dann kommen die Zahlen, die Punkte, die über den Wert oder Unwert einer Leistung entscheiden, der letztlich nicht selten mit dem ganzen Menschen aber gleichgesetzt wird.

Dabei steht nur die Leistung im Mittelpunkt und keinesfalls den Aufwand, den ein Mensch dabei individuell vollbringen musste. Hier herrscht das kalte System von Talent und Fleiß. Fehlt es an einem, muss das andere entsprechend hoch gepuscht werden, um irgendwie noch mit dem Mittelmaß oder den Guten mithalten zu können. Wo man mitzuhalten hat, wird in jungen Jahren meist von den Eltern und deren unmissverständlicher Erwartungshaltung bestimmt. Bei dem einen Schüler mit klarer Ansage, die bis zur Drohung gehen kann, bei dem anderen mit lockender Motivation, die ein raffiniertes System braucht, um auf Dauer zu wirken.

Kinder nehmen es an oder verweigern es, je nach Angst vor oder Dominanz von Seiten der Eltern. Oft ist es auch die Kombination von Angst und Dominanz durch die Eltern, weil die Angst der Eltern, an der eigenen Brut zu versagen, für viele Eltern einem Stigma gleichkommt. Haben Vater und/oder Mutter etwas erreicht, sollte die Nachkommenschaft noch eines draufsetzen. Mindestens ist aber das Niveau zu halten, damit es keine Blamage gibt. Diesen Stress haben vor allen Dingen all jene gebildeten Kreise, wo Bildungshybris und Standes-Dünkel über den wahren Werten des Menschen steht, selbst dort, wo dies vehement bestritten wird.

Dabei muss sich nichts davon ausschließen. Und natürlich ist der Drang, sich ein wenig messen zu wollen, zu gen „Guten“ zu gehören, dem menschlichen Streben von Natur in gewisser Weise eingegeben. Aber da genau beginnt die Crux. Was heißt schon in „gewisser Weise“ und was heißt schon "von Natur aus“!?

Dort wo es um die Förderung von Anlagen, Talenten, Vermögen und Ressourcen aller Art geht, die eine liebevolle Begleitung, Motivation, besondere Möglichkeiten, auch durchaus mit einer gewissen Strenge und Disziplin geht, ist die Evolution auf ihrem besten Weg. Dort aber, wo über Zensur und Noten die eigene Eitelkeit, das drohende Minderwertigkeitsgefühl, das Gespenst eingenisteter Hybris sich breit gemacht hat, sollte Zensur und Erwartung hinterfragt werden, bevor es wieder unnötige Bildungsleichen erzeugt, die mit einer gesunden Haltung vermieden werden könnten. Eine Gratwanderung für Eltern und Kinder, die sich nach der Schule fortsetzt. Der Stress, den sich manche dann lebenslang zwanghaft antun, weil ihr eigener Wert immer von Schulnoten und später von Arbeitszeugnissen abhängig gemacht wurde, kann enorm sein und krank machen.

Durchschaut man aber das eigene Spiel, kann man sich an seinen Talenten auch einfach nur erfreuen und die Schwächen akzeptieren lernen. Man kann gleichzeitig erfolgreich sein oder auch nicht, aber vor allem begreifen, dass der menschliche Wert eben nicht von diesen oft unmenschlichen Wertesystemen abhängt. Wem dieser Durchblick nebst gesunder Umsetzung gelingt, hat seine eins oder Höchstpunktzahl erst wirklich verdient.

— 07. Juni 2012
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