Höllen durchschreiten

Wenn die Kinder innerlich „ausziehen“, von Christa Schyboll

Tim ist ein Kind seiner Generation und liebt den virtuellen Kampf. Bummmbummmbummm… Stundenlang, tagelang,… wie auch all seine Freunde. Er ist in seiner eigenen Welt und nicht mehr ansprechbar für die Bewohner der irdischen Realität.

Sozialkontakte innerhalb der Familie beschränken sich auf die seltenen gemeinsamen Mahlzeiten, mehr jedoch auf Nachfragen, wer das Nutella-Glas gelehrt habe, wieso kein Shampoo im Bad zu finden sei oder ob Lotte etwa wieder sein Lieblings-Shirt aus der Frischwäsche trage. Der Hauptteil seines wahren Lebens spielt sich in Leveln ab.

Tims Mutter probiert es derweil mit einem tapferen Durchmarsch durch die Hölle der Pubertät. Natürlich ist sie ständig angesengt und am Anschlag ihrer Nerven. Nichts lässt sie unversucht, Sohnemann zu motivieren, kreativ und schöpferisch zu sein, die Schlamperei auf ein menschlich erträgliches Mindestmaß zu reduzieren, nicht weiter in der Schule abzufallen, wenigstens monatlich einmal die Großmutter zu besuchen und überhaupt doch bitte endlich seine wahren Talente einmal zur Kenntnis zu nehmen in der vagen Hoffnung, sie irgendwann auch einmal einzusetzen.

Tims Talent ist weghören. Er ist der vollkommene Ignorant. Darin hat er bereits die erste Meisterschaft. Doch die Mutter weigert sich stur, seine anderen Talente zu übersehen. So war er doch schon immer recht musikalisch. Die heiß gewünschte Bassgitarre bekam er mitsamt Unterrichtsschein. Doch dann trat World of Warcraft in sein Leben…. WoW! – und damit änderte sich alles.

Derzeit lebt Tim nicht in der Rosenstraße 34, sondern in den Östlichen Königreichen und umkämpft auf Stufenreichweite 70 die Insel von Quel’Danas. Aber das versteht Tims Mutter nicht und quengelt stundenlang um ihn herum. Wäre sie keine Spätgebärende jenseits der 30 gewesen, so hätte er ja eine Chance gehabt, es ihr einmal zu erklären. Doch sie mauert. Will nichts wissen. Selbst Ignorantin! Man sollte sie am besten an der Dunkelküste abladen.

Tims Mutter meint es gut. Das nervt Tim. Und das nervt auch den Rest der Familie, weil dieses Gutmeinen schrecklich anstrengend für alle ist. Tims Vater hat nach der Arbeit die Schwelle der Küche noch nicht betreten, als er Zeuge des nächsten Tobsuchtsanfalls wird, der Tims Mutter scheinbar spontan aus dem Nichts heraus heimsucht. Sie hat schließlich einen Doppeljob. Alle haben darunter zu leiden, dass Tim physisch im gleichen Haushalt lebt, aber mit seinem Geist, seinen Gefühlen und Gedanken, diese gemeinsame Welt vorübergehend scheinbar verlassen hat. Die kleinen Pflichten, die immer wieder eingefordert werden, bauschen sich um einen innerfamiliären GAU auf und kosten Zeit, Vertrauen und Herzblut.

Wie konnte es nur dazu kommen! Ein so kreatives Kind mit allen Möglichkeiten! Ein Zombie in seiner eigenen Vorstellungswelt, deren Höhepunkt nächtliche LAN-Partys sind. Alle Versuche, Zeitbegrenzungen auszuhandeln, an die sich vernünftige Menschen halten würden, scheiterten in Tims Familie so, wie sie in fast jeder Familie scheiterten.

Mit nicht sonderlich feuerfesten Nerven schreitet Tims Mutter weiter durch die Hölle. Sie sieht all die schönen Anlagen, die ihr Sohn bis zum zwölften Lebensjahr entwickelt hat, den Bach herunter gehen. Sieht ihn visionär sozial verwahrlost und verelendet an einem Bahnsteig liegen. Sein Leben wird er unmöglich meistern lernen, wenn er nicht bald ablässt. Tims Mutter ist dieser Glut der Wut bald nicht mehr gewachsen.

Dann kommt eine ältere Freundin zu Besuch. Sie hat es gut. Ihre Kinder sind auf besten Wegen. Aber auch sie war eine Angesengte durch die Jahre und diversen Levelkarrieren ihrer Kinder. Irgendwann war es vorbei. Nicht so ganz… aber doch so, dass es die innere Qualität der Kinder nicht mehr hemmte. Sie brachen sich Bahn. Irgendwann hatten sie sich frei geschossen fürs echte Leben. Und dann keimte die Saat, die früh und stark angelegt war, zu einer schönen Frucht.

Tims Mutter fasst wieder Mut. Sie will neu Vertrauen lernen. Vertrauen darauf, dass die wirkliche Qualität, in der die Kinder erzogen wurden, sich irgendwann wieder durchsetzen will. Einfach weil sie doch stärker ist, als die Verführung zum Second life.

— 17. November 2010
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