Lebendiges Licht

Eine biologisch-metaphysische Exkursion mit Christa Schyboll

Wir alle kennen natürliche und künstliche Lichtquellen und leben mit beiden unsere alltägliche Selbstverständlichkeit, dank der Sonne, der Gestirne und der technischen Errungenschaften durch den Geist des Menschen. Wie anders aber ist es, wenn das Licht vollständig entzogen ist? So ergeht es den Wesen der Tiefsee. Die Tiefsee ist der mit Abstand größte Raum auf unserem Planeten, der Leben birgt. In ewiger Dunkelheit. Kein Sonnenstrahl kann solche Tiefen durchdringen.

Und doch ist er voller Licht. Voll von lebendigem Licht, das faszinierend ist. Denn die Lebewesen der Tiefsee erzeugen es selbst in ihrem Organismus. Farbenfroh, vielseitig und so verschiedenartig, dass es einem den Atem raubt. Kleine und große Pflanzen und Tiere, Mikroorganismen und wundersame Kolosse erzeugen ihr ganz individuelles Blinken, Blitzen und Leuchten und betreiben auf diese Weise die mit Abstand lebendigsten Kommunikationsformen, was Masse und Ausdruck angeht. Dagegen sind wir knapp acht Milliarden Menschen auf der Erde ein kümmerliches Häuflein. Die Dimension der Tiefsee ist um ein Vielfaches größer und komplexer.

Es war mal wieder eine von diesen wunderbaren Dokumentationen, die mich nicht nur in Erstaunen und Entzücken versetze, sondern auch Fragen aufwarf und zugleich auch wieder Entsetzen in mir auslöste. Das mit dem Entsetzen sei diesmal nur kurz erwähnt, weil ich nicht immer über zu viel des menschlichen Frevels schreiben möchte: Nämliche jene internationale Trailer-Mafia, die die Meere brutal abtötet. Mit Netzen größer als gleich mehrere Fußballfelder… Nicht nur die Überfischung in den fischreichen Strömungen des Oberflächenwassers der Meere ist ihr täglich tödliches Brot, sondern mittlerweile gehen sie bis 2000 m in die Tiefsee hinunter und zerstören mit ihren gigantischen Netzen unglaublich schöne maritime Schätze, die Jahrtausende für ihr Wachstum brauchten… Sie hinterlassen Chaos und Tod… und niemand nimmt sie in die Pflicht. Der Mensch also auch ein See-Ungeheuer, das seinesgleichen sucht. Ein Todbringer zu Land, Wasser und in der Luft…

Doch kommen wir zurück zu den Wundern, die mich so entzücken. Diese Fähigkeit, sich seinen ganz individuellen Ausdruck per Leuchten in dieser ewigen Dunkelheit der Tiefsee selbst zu geben. Eine innere Sonne, durch selbst erzeugte Energieimpulse, die bei jedem dieser Trilliarden von Lebewesen zugleich einzigartig ist… noch unerkannt in ihrer Botschaft, unerforscht in ihren Merkmalen, aber ein Zeugnis davon, dass in jedem Lebewesen auch ein Licht wohnt, das nach außen strahlt und die Dunkelheit erhellt.

Was nun, wenn wir Menschen es auch einmal schaffen, in unseren Eigenfarben zu leuchten, die Ausdruck unserer Einzigartigkeit ist? Was, wenn wir uns dann viel genauer und besser gegenseitig erkennen könnten, weil ein solches Licht nicht trügt, weil es aus dem Wahrhaftigen des Seins geboren wird? Weil es kein falscher Schein ist, sondern das Merkmal des Einzigartigen, das aus uns leuchtet. Wie viele Missverständnisse würden entfallen, wie viel Zeit für Wesentliches stände uns allen zur Verfügung, wenn alles so rein wäre, wie unser authentisches Leuchten.

Was wäre es für ein neues Miteinander, wenn wir das schaffen, dass wir für jede unserer Eigenschaften eine Farbbotschaft für unsere Umwelt hätten. Unsere Aura so sichtbar und klar würde, dass ein jeder wüsste, wo er mit dem anderen dran ist. Ob ihn Ängste plagen, Sorgen, ob er großmütig ist, liebevoll, aufreizend oder gefährlich. Ob er sich unwohl fühlt, glücklich ist, gebebereit oder bedürftig nach der Zuwendung eines anderen?

In Zeiten des Datenschutz ist vor allem alles Mögliche verboten. Alles soll unter Tabu stehen, damit die Privatsphäre gewahrt bleibt. Dafür gibt es gute Gründe, die vor allem mit dem Thema Missbrauch zu tun haben. Wir müssen uns also quasi noch vor der eigenen Spezies schützen… so wie das Böse offenbar immer noch in allen veranlagt ist. Gleichzeitig schlägt die Zeitmode von Facebook, Instagram, Twitter und co. diesem Ansinnen schon fast ein lachhaftes Schnippchen, indem der persönliche Datenschutz ganz höchst persönlich zur lächerlichen Farce wird. Alles wird preisgegeben. Oft mehr, als jemand wissen will. Eine Form des Exhibitionismus, der dem Datenschutz die Wirklichkeit des menschlichen Seins um die Ohren haut.

Was hat das mit dem Licht, dem Leuchten aus uns selbst zu tun?

Alles. Man muss es nur in seinen Interaktionen und Konsequenzen bedenken. Würden wir so leuchten, wie wir sind, wären wir transparent. Der Vorteil: Jeder würde einfach jeden so sehen, wie er nun einmal ist. Ehrlich, klar, ungeschönt. Und jeder würde erkennen: Auch die anderen Menschen haben ihre dunklen Flecken, die jederzeit durch Bemühung in anderes Licht verwandelt werden können. Jeder hat jederzeit seine neue Chance und zeigt es, wie er sie nutzt. Strengt sich jemand an, so würde allein die Anstrengung ein völlig anderes Leuchten entfachen, als die Bequemlichkeit.

Man sähe wie der Knabe den nackten König, der keine Kleider trug. Man sähe, was ist.

Ich weiß: Vielen Menschen wäre es ein arger Graus, in einer transparenten Welt zu leben. Dort, wo man nichts mehr verstecken kann, weil man klarsieht, was die Wirklichkeit betrifft. Aber das nicht nur beim Volk, sondern generell bei allen, vor allem auch jenen in Lenkungsfunktionen. Auch da gäbe es dann ein Versteckspiel mehr. Ein unzureichend qualifizierter Kanzler, Minister, Präsident? Ein verlogener Pastor, korrupter Beamter, krimineller Direktor? Jeder würde sich sofort selbst entlarven durch das, was und wie er es ausstrahlt. Und jemand, der völlig unbekannt ist, aber über eine besondere Art des Leuchtens verfügt, könnte sich aus jedem Stand heraus sofort qualifizieren, weil sein lebendiges Licht nicht lügt.

Es ist ja nur eine kleine Gedankenexkursion. Eine aus der Gegenwart für die Zukunft. Und dass jede Zukunft immer nur in der Gegenwart vor-erzeugt wird, wissen wir ja alle. Hier und heute hervorgerufen durch einen Beitrag über die Tiefsee, diese schöne, unbekannte Welt innerhalb unserer Welt. Einer Welt, die wir gerade auch zerstören, obschon wir sie noch nicht einmal richtig kennenlernen durften…

Ob wir dann wenigstens uns selbst einmal kennenlernen?

— 13. Juni 2022
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