Persönlichkeitsveränderungen

Wenn Zäsuren quälen und das Neue lockt. Von Christa Schyboll

Wir alle befinden uns im ständigen Fluss unserer Persönlichkeitsveränderung. Ob wir es merken oder nicht. Lebenskrisen prägen uns dabei aber ganz besonders stark. Wir entwachsen dem Alten und haben das neue Terrain aber noch nicht erobert. Das kann auch zu vorübergehenden Kurzschlüssen führen.

Emilie beobachtet Moritz mit Argwohn. Seit einiger Zeit verändert er sich. Ihr gefällt das nicht. Er ist nicht mehr der alte. Nicht mehr der, in den sie sich einmal so heiß verliebt hatte. Moritz wird immer eigenwilliger. Emilie sieht Gefahr im Verzug. Sie wird sehr aufpassen müssen.

Moritz beobachtet Emilie mit leichtem Unbehagen. Seit einiger Zeit verändert sie sich. Ihm gefällt das nicht. Sie ist so anders als früher. Nicht mehr so locker und fröhlich drauf. Was war sie nur für ein entzückendes Wesen! Emilie verhält sich merkwürdig. Moritz geht auf Distanz. Er verhält sich defensiv. Er wird sehr aufpassen müssen.

Emilie und Moritz sind Ende zwanzig. Sie verändern sich beide. Nicht etwa nur, weil sie schon seit einigen Jahren zusammen sind, sich sehr gut kennen und der Alltag längst seine Wurzeln in ihrer Beziehung geschlagen hat. Sie verändern sich deshalb, weil es ansteht, weil sie innerlich wachsen wollen, ohne dass sie diesen Prozess vielleicht schon realisieren. Was sie realisieren ist: Veränderung, Unruhe, Unsicherheit und Anspannung. Keinesfalls jedoch auch schon Wandel, Bereitschaft oder gar Erneuerung. Denn sie wissen nicht, was gerade passiert. Und weil sie es nicht wissen, stellen sie sich kritische Fragen in die falsche Richtung und suchen etwas beim Partner, was sie in sich selbst zu suchen und zu finden haben.

Die menschliche Persönlichkeit bleibt bis zum Tod im Fluss der Veränderung. Aber jenseits der Pubertät zeigen sich die Veränderungen meist nur jenen Menschen in aller Klarheit, die einen wissenden Blick für die Feinheiten von Entwicklungsrhythmen besitzen. Die meisten haben dies in ihren Schul- und Berufsausbildungen eben nicht gelernt. Sie hatten bisher ihren Fokus auf Erfolg, Karriere, Partnerschaft, Hobby oder Familie oder Freunde ausgerichtet. Das waren die Lebensfragen, die erste Priorität bekamen. Und nun platzt diese Unrast mit voller Wucht ins Leben, ohne darauf vorbereitet zu sein. Betroffene kommen sich in diesen Phasen quasi selbst abhanden. Sie wissen nicht mehr, wer sie sind, weil das Wesentliche in keinem Passdokument der Welt steht. Sie wissen aber meist auch nicht, warum plötzlich alles von ihnen in Frage gestellt werden will, was doch vor kurzer Zeit noch völlig in Ordnung war. Plötzlich zählt das Erreichte nicht mehr. Und das, obschon man überhaupt keinen Ehrgeiz spürt, es besser zu machen oder nun erst recht Gas zu geben. Im Gegenteil. Mit der Unzufriedenheit kommt nicht selten dann auch noch eine zusätzliche hemmende Stimmung hoch, die nur noch nach Widerstand schreit. Vielen ist alles zuviel. Gleichzeitig will man mehr und anderes als das, was ist.

Missmut an der falschen Stelle

In dem Maße, wie der Missmut steigt, drängen sich auch mehr und mehr Fragen in den Vordergrund. Nur findet man keine schnelle Antwort. Jedenfalls keine, die befriedigt. Und wenn doch, so ist oft ihre Durchsetzung mit solch radikalen Einschnitten verbunden, dass man den Gedanken wie eine heiße Kartoffel schnell wieder entsorgt.

Befindet sich der Partner zufällig zur gleichen Zeit ebenfalls in einem ähnlichen Entwicklungsschub, bricht nicht selten das Beziehungschaos aus. Man erträgt den anderen nicht mehr, weil man sich selbst nicht erträgt. Die Differenzen nehmen zu. Die Bereitschaft nach Versöhnung nimmt ab. Am Ende sind beide allein. Das wäre in vielen Fällen unnötig, wüssten beide Partner nur genauer, dass und warum sie sich gerade auf dem Höhepunkt einer ganz natürlichen Entwicklungskrise befinden., die dem eigenen inneren Wachstum dient. Da aber viele Menschen das nicht wissen, suchen sie die Lösung des Problems an der falschen Stelle und begehen häufig einen fatalen Fehler durch die Fehleinschätzung der eigenen Situation.

Denn so wie sich der Leib des Menschen mit seinen inneren Organen, Zähnen, Gliedmaßen entwickeln musste, so beanspruchen auch Seele und Geist des Menschen ein solches Wachsen. Es ist die Reifung der Persönlichkeit, die fast immer durch Krisen geht. Zeichen der Krise ist eben dann auch eine Desorientierung, eine Angst. Oder neue Fragen, die zeigen, dass das Alte nicht mehr trägt. Zu glauben, die bisherige Lebensform sei dabei in jedem Fall und total immer über Bord zu werfen, ist jedoch falsch. Im Einzelfall kann es natürlich genau richtig sein, aber in der Regel reicht es schon aus, dass man nur bestimmte Dinge im Leben verändert, ohne deshalb gleich die Familie verlassen zu müssen und das Glück nur im Umfeld neuer Menschen an anderen Orten zu suchen. Dort trifft schnell eine Ernüchterung ein, wenn man spürt, dass man sich letztlich nur auf der Flucht vor sich selbst befindet und seine Probleme damit keineswegs löst.

Entscheidend ist, dass die richtigen Fragen in einem solchen Prozess gestellt werden. Dazu gehört eine schonungslos ehrliche Bilanz des bisherigen Lebens. Dazu gehört auch, dass kein wichtiges Thema tabu sein darf. Hat man seinen ganz persönlichen Fragekatalog erstellt, geht es darum, eine erste Bilanz im Vorfeld zu ziehen, um sich über die eigenen Stärken und Schwächen im Klaren zu sein. Aber will man das? Nicht unbedingt. Denn so mancher macht da alte Fässer auf, deren Inhalt er nicht immer allein auch gewachsen ist. Denn so, wie sich jeder bis zu diesem Krisenpunkt entwickelt hat, hat es ja auch treffende Gründe, warum dies so geschah. Warum man verdrängen und nicht verarbeiten konnte. Warum der alte Idealismus verschwand und an seine Stelle eine hoffnungslose Akzeptanz trat, in der man sich einrichtete, weil alle es so machen. Jede Bilanz wird anders ausfallen. Gemeinsam ist nur fast allen Menschen, dass sie fühlen: Sie müssen etwas ändern! Und zwar sich selbst! Das ist das Schwerste für jeden. Selbst dann, wenn man sich die Gründe klar vor Augen führt, sie bejaht und anerkennt. Die Änderung ist mit einer solchen Bejahung noch nicht geschehen. Es ist nur ein erster, jedoch wichtiger Willensimpuls.

Das Problem mit den anderen und eine tiefe Zäsur

Veränderungen der eigenen Persönlichkeiten gehen in aller Regel nicht ohne tiefe Zäsuren mit anderen Menschen ab. Sei es der Partner oder seien es Familienangehörige, Freunde, Chefs oder Kollegen. Alle die, die nun eine Veränderung zu spüren bekommen, sind erst einmal irritiert. Und in der Regel nicht nur zum Positiven. Denn plötzlich erwacht eine innere Kraft, die man nicht kennt und die verstörend auf andere wirken kann. Das bedeutet, dass die Veränderung weit über die eigene Person hinausgeht und Wirkung zeigt. Und dann ist alles paletti? Bei manchen zunächst vorübergehend ja. Bis zur nächsten Krise. Andere machen nur zarte Anfänge in ihrer eigenen Persönlichkeitsveränderung und gehen dann wieder zwei Schritte zurück, weil sie die Kritik der anderen an der eigenen Veränderung nicht ertragen. Oder man ist sich selbst so unsicher und fremd, dass man doch lieber wieder in die alten Gewohnheiten gefällt, die zwar nicht mehr zu einem passen, aber die man halt kennt. Und was man kennt, macht keine Angst.

Zu begreifen ist, dass wir in diesen verschiedenen Lebenskrisen das alte Korsett unserer Gedanken, Gefühle und Handlungen nicht mehr mögen. Wir sind ihm entwachsen. Und wir wollen ein neues Kleid. Eines, das flexibler wird und uns mehr Unabhängigkeit als vordem beschert. Oder eines, das sich der eigenen Kräfte, Talente und Fähigkeiten nicht nur bewusster wird, sondern lernt, diese auch einzusetzen. Das alles geht aber nur, wenn wir uns tiefer als bisher verstehen lernen, wenn wir uns durchschauen und motiviert sind, unsere Energie und Kraft an neuen Zielen für uns selbst zu erproben.

Ist man bis zu diesen Erkenntnissen vorgedrungen, hat man einen guten Weg betreten. Man ahnt vielleicht, dass man vielleicht den einen oder anderen Wegweiser oder Helfer brauchen kann, weil da noch ein innerer Dschungel droht. Am besten natürlich Menschen, die ihre eigenen Krisen schon bewusst gemeistert haben und über einen Überblick verfügen, der Mut machend ist. Menschen, die einem sagen: Du schaffst das! Aber schau in die richtige Richtung. Stell die richtigen Fragen. Vermeide die Projektion auf den Partner oder andere Menschen. Bleib bei dir selbst, wenn du erst einmal bei dir angekommen bist. Je mehr du bei dir selbst bist, je offener wirst du für andere sein und das Leben in vollen Zügen mit all seinen Anforderungen, Prüfungen und Chancen von Herzen willkommen heißen.

— 05. November 2013
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