Im Bann der Phantasie

Wie sie mich treibt und scheucht, befeuert und drängt! Von Christa Schyboll

Jeder Mensch besitzt Phantasie. Nicht jeder versteht es aber, sie auch so auszudrücken, dass sie ihn selbst und die anderen Menschen begeistert oder bereichert.

Oft wird die Phantasie auch als bedrohlich empfunden, weil Kräfte von ungeahnter Wirkkraft angesprochen werden. Und es gibt auch die krankhafte Phantasie, die sich in Wahngebilden oder sonstigen Verzerrungen zeigen kann und manchmal auch zu schwerwiegenden Taten verführt.

Der Regelfall ist aber die gesunde Phantasie, die die kreative Fähigkeit des Menschen zeigt. Sie kann sich in der Innenwelt des ureigenen Universums ebenso ausleben, wie in der Außenwelt. Sie kann als Wort, Musik, Sprache, Schrift, Gesang, Kunsthandwerk, Bühnenkunst oder auch soziale Kunst zum tragen kommen. Ihr sind keine Grenzen gesetzt. Der Grad des Individuellen ist beeindruckend deutlich sichtbar und bereichert oftmals Menschenmassen.

Meine Phantasie zum Beispiel kommt in Schüben. Es braucht keinen äußeren Anlass oder ein Vorhaben. Es braucht nicht einmal eine gewisse Gestimmtheit. In solchen Zeiten kann ich mich hinsetzen und fast wie "besinnungslos" immer weiter schreiben. Jedoch nicht bewusstlos oder bewusstseinsfern - aber auch nicht kalkuliert, vorbereitet oder nach einem analytischen inneren Masterplan vorgehend. Manchmal stürzt es auf mich ein gleich einer Lawine, der ich mich nicht entziehen kann. Aber auch nicht entziehen will. Ich lasse mich fallen und betrete ein Niemandsland, dem ich mich selbst schenke. Dann bin ich Gefäß für eine kreative Kraft, die sich in mir und durch mich ausdrückt. Es spielt dabei überhaupt keine Rolle, ob es einmal einen Wert auch für die Außenwelt hat, ob man es in Euro berechnen kann. Da gibt es kein kleinkrämerisches Kalkulieren oder schielen nach dem Geldwert. Es spielt einzig eine Rolle, dass es Freude bringt, dass ich Ja zu diesem spontanen Prozess sage und es von ganzem Herzen will. Die Folgen, dass in diesen Zeiten andere wichtige Dinge nicht erledigt werden können, nehme ich bewusst in Kauf.

Dann bin ich "Sache, Tat", dann bin ich selbstvergessen und freue mich um jeden Moment der Ungestörtheit. Dann bin ich so tief in mir selbst, dass ich quasi nicht mehr bin. Hunger und Durst werden unbemerkt übergangen, wie auch der Schlaf, der sich einfach nicht zeigt. Irgendwann kommt er dann schon. Schnell, heftig, oft nur kurz. Ich brauche dann nur sehr wenige Stunden, weil es mich weitertreibt. Manchmal durch die Träume, die wiederum zur nächsten Inspiration werden, als seien die Zeiten zwischen Schlaf und Wachen aufgehoben. Ein Zwischenzustand, in dem ich mich fast körperlos fühle. Das geht so lange, bis ich "ausgepowert" bin. Das kann manchmal Wochen dauern. Andere Male sind es nur Tage, die mit den Nächten zu einer einzigen Arbeitseinheit verschmelzen, die mich stressfrei vorantreiben zu einem Ziel, das ich selbst nicht kenne. In der Regel kenne ich nicht einmal den nächsten Satz, die nächste Idee. Es fließt und fließt immer weiter, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an einen Gedanken zu verschwenden. Es ist wie ein immerwährendes tiefes Fühlen, das in Worte gekleidet werden will. Irgendwann ist Schluss. Fertig ist dann aber noch nichts. Aber schrecklich viel Material ist da. Das wird später gesichtet und vielleicht auch überarbeitet. Manchmal auch nicht, weil einfach die Zeit dafür nicht ausreicht. Dann ist es eben nur für sich selbst geschrieben - um seiner selbst willen. Einfach weil es da war, einfach weil es "zur Erde wollte". Oft unbezahlt, ungelesen, unbekannt - und es verschwindet später nicht selten in den tiefen Schubladen einer großen fast vergessenen Schatzkammer meines Geistes.

Solche Zeiten machen Freude. Sie sind bedingungslos und keinem wirtschaftlichen oder beruflichen Zwang verpflichtet. Sie bringen tiefe Befriedigung selbst dann, wenn kein weiteres Auge jemals mehr darüber streift. Es ist Hingabe. Hingabe an die eigene Phantasie, ans Tun, das in absoluter Freiheit geschieht. Das frei ist, anschließend unter Umständen auch "nicht zu sein". Aber es war! Und sei es nur für die Stunden des freudigen Prozesses.

Wer solche Situationen kennt, ahnt mit mir um die Unbeschränktheit des Geistes. Ahnt, welche noch ganz anderen Kräfte in uns Menschen noch schlummern, wenn wir noch mehr als jetzt eine Lebensform finden, die solche Kreativität in möglichst allen Menschen noch viel mehr fördert und freisetzt. Wem immer wir diese Form von tiefem Glück zu verdanken haben: Es muss ein vortrefflicher Meister gewesen sein, der uns dies zum Geschenk des Lebens machte.

— 05. April 2012
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