Optimistischer Pessimist

Fehlt uns die wirklichkeitsgemäße Nüchternheit, fragt Christa Schyboll

Heißt es doch so schön sinngemäß, dass ein Pessimist ein gut informierter Optimist ist. Was aber wenn über beiden ein Schleier liegt, der jede Nüchternheit vermissen lässt, weil sich das Fühlen in uns beruhigen oder aufregen will?

Was, wenn weder Schönmalerei noch Schwarzsehen das Gebot der Stunde ist, sondern einzig und allein wirklichkeitsgemäßes Hinschauen auf die Dinge an sich. Ganz ohne Vor-Urteil darüber, ob es mir selbst zum Schaden oder zum Glück gereicht. Unabhängig vom gewünschten Ziel. Inwieweit ist diese gesunde Nüchternheit mit klarem Blick auf die Dinge noch ein Sachwalter in Zeiten, wo Politiker das Ende - nein, nicht des Wohlstandes - sondern der Lebensbedingungen für ganze Landstriche auf Jahrtausende ansagen und heftig die Todestrommel rühren?

Die Welt erstarrt in Waffen und rüstet und rüstet weiter auf! Das Sicherheitsbedürfnis der Wehrhaftigkeit und Gegenwehr hat das pathologische Maß längst überschritten - und immer reicht es noch nicht, weil... Leben und Überleben eben nicht die Markierungslinien des handelnden Geistes sind. Doch was bedeutet Optimismus und Pessimismus in diesem Fall für den Einzelnen, den Ohn-Mächtigen, den hilflosen Zuschauer des Desasters und verdonnerten Teilnehmer?

Der Pessimist: Soll er sich angesichts der atomaren Drohungen nun täglich neu 24 Stunden lang völlig verrückt machen? Schnell noch einen Bunker bauen? Geht nicht, wissen wir. Und Vorsorge für Leib und Leben? Geht nicht, wissen wir... weil wir eben nicht wissen, ob, wo und wann was und wie viel gezündet wird. Sich in einen Krähwinkel im pazifischen Ozean zurückziehen? Na ja, könnte gelingen, aber auch schnell so überfüllt sein, dass dann dort ganz andere Probleme zu erwarten sind. Der Pessimist wird letztlich in seiner Sackgasse bleiben müssen, bis das passiert, was eben passiert. Zukunft wird zwar immer in der Gegenwart bereits entschieden, aber zu allem Pech können wir unsere eigenen Spuren, die wir in der Gegenwart für die Zukunft schon hinterlassen, nicht ordentlich deuten. Mensch! Sechs! Setzen! Der Pessimist ist dazu verdammt, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Das liegt in seinen Bewusstseins-Genen. Dabei ist nicht ausgemacht, ob der eigene Tod das Schlimmste wäre - oder vielmehr vielleicht ein langes schmerzhaftes Leiden im Überleben?

Der Optimist: Es wird schon gutgehen. So blöd wird keine Seite sein. Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter. In guter Wild-West-Ost-Manier-Sprech. Klar, Tote sind unvermeidlich. Doch es wird gewiss beim konventionellen Schlagabtausch bleiben. Da bin ich sicher. Überhaupt bin ich doch ziemlich sicher. Zumindest hier in Deutschland. Weder die USA noch die Russen bekommen Klein-Kriege gewinnbringend besiegt. Sieht man doch: Syrien, Afghanistan, Vietnam … und all die zahllosen Kriege mal des einen, mal des anderen inmitten des Gewusels der Kriegsgewinnler. Da ist die Rote Linie nicht eine der Diplomatie, sondern eine des letzten Restverstandes in irgendeiner Hirnwindung... oder des Staatsbudget... oder der Lieferkettenverzögerung in Schanghei.

Und der Nüchterne? Er wartet ab. Legt sich nicht fest. Hofft zwar, aber sieht sehr klar die verschiedenen Sichtweisen, Interessenlagen, Narrative mit uralter Genese, sieht die Tauben und Falken am Himmel. Wobei sich die Tauben ständig als Falken geben, während die Falken zwischendurch gurren. Auf allen Seiten. Taktische Spielchen zu Wasser, zu Lande und in der Luft nicht nur am bevögelten Himmel.

Doch was heißt es denn, wirklichkeitsgemäß auf die Dinge zu schauen: In diesem Fall von aktueller atomarer Bedrohung heißt es, für alle Möglichkeiten innerlich klar und offen zu bleiben. Nicht nur für die Möglichkeiten der Kriegsmaschinerie, sondern vor allem für die unkalkulierbaren psychischen Verfassungen und Denkprozesse der Akteure auf allen Seiten. Zugespitzt heißt es auch: Ohne jeden Pessimismus im Hintergrund kann es sein, dass es auch mich das Leben kostet. Oder dass es eine Reihe von Jahren schwer wird. Oder auch, dass doch bald eine Lösung gefunden werden könnte, weil... nein, nicht weil Mitmenschlichkeit und Humanismus die Verhandlungen führt, sondern die Sachlage des Möglichen, gemäß der Sichtweise der jeweils Agierenden und ihrer Fantasie, ihren Zielen -- oder auch ihrer Todesbereitschaft nicht nur für sich selbst, sondern auch für ganze Völker.

Möglich ist alles. Leben - Überleben - Tod. Aber die Hoffnung stirbt dennoch bei allen zuletzt.

— 27. April 2022
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