Welttag des Stotterns

Ist Stottern hin und wieder ansteckend?, fragt Christa Schyboll

Walter ist ein guter Freund. Er stottert. Natürlich nervt das ein wenig. Denn man braucht Geduld. Vor allem dann, wenn man keine hat. Dann braucht man doppelt soviel. Er stottert seit der frühen Kindheit. Natürlich ist irgendwas damals passiert. Keiner stottert einfach so! Aber niemand findet es heraus.

Seine Erinnerungen scheinen wie gelöscht. Seine Eltern sind tot. Zum Psychologen mag er nicht mehr. Die Logopädie kam in seinem Fall nicht wirklich weiter. So etwas gibt es! In anderen Fällen mag sie wirkungsvolle Heilung leisten.

Walter ist eine gute Seele. Deshalb ist das Aufbringen von Geduld das Mindeste, was man zu leisten hat. Auch wenn es schrecklich viel Zeit kostet. Ihn zu unterbrechen, ist gemein. Ihm die eigenen Worte in den Mund zu legen, verärgert ihn zu Recht. Dabei weiß man schon vorher, was er sagen will. Denn er deutet es oft schon so klar im ersten Halbsatz an, dass es der zweiten Hälfte eigentlich gar nicht mehr bedarf. Aber sie ist wichtig für Walter. Auch wenn man sie schon kennt. Walter hat Aufmerksamkeit, Zeit und Respekt verdient.

Aber Walter zeigt mir noch etwas ganz anderes: Auch ich bin ein Stotterer. Denn wenn er stottert, überkommt es mich hin und wieder auch. Ich stottere plötzlich im Gespräch mit ihm, obschon ich sonst nie stottere. Am Anfang führte das zu einem bösen Missverständnis. Er dachte ernsthaft, ich äffe ihn nach. Er kannte mich noch nicht so gut. Es war für mich beleidigend, dies anzunehmen. Dennoch verstand ich ihn im Nachhinein. Nur mich selbst verstand ich nicht. Warum stotterte ich nur?

Natürlich nicht so schlimm wie Walter. Aber immerhin war es deutlich heraus zu hören. Einzelne Worte oder kleine Satzteile holperten hörbar. Es war doch keine unbewusste Solidarität im Spiel!? Es war auch kein Mitleid in dem Sinne, dass ich mich stotternd auf seine Sprachstufe stellen wollte. In Bezug auf die menschliche Stufe standen wir von jeher auf der gleichen. Irgendwas passierte mit mir, wenn ich ihn hörte. Irgendetwas brach sich Bahn, das mich tief erschreckte. Würde ich zum Stotterer werden, wenn ich nur öfter mit ihm sprach? Unbewusst mied ich ihn eine zeitlang. Dann, später, begegnete mir hin und wieder ein Mensch mit Stotterproblemen. Das gleiche Phänomen trat wieder auf. Ich stotterte auch leicht. Ich war verunsichert auf einem Terrain, auf dem ich sonst doch so sicher war!

Erstaunlich war es deshalb, weil Redehemmung an sich doch noch nie ein Problem für mich war. Nun aber doch! Ich dachte nach. Was genau da passierte, fand ich nicht heraus. Aber dafür etwas anderes, was viel, viel wichtiger war. Ich fand heraus, wie sich ein Stotterer fühlte. Wie es ihm ergeht, wenn er sprachtechnisch nicht mithalten kann. Bei zwei Gesprächen, währenddessen ich selbst stotterte, waren Bekannte anwesend. Natürlich sprachen Sie mich an. Ich musste auch ihnen versichern, dass es keine Absicht oder eine merkwürdige Mitleidstour war. Es war echt. Sie schauten mich betreten an. Da ich aber fehlerfrei flüssig mit ihnen nun sprach, beruhigten sich wieder ihre Gemüter und kamen ins Nachdenken… nicht nur über Walter, sondern auch über mich, ein psychologisches Phänomen und seine geheimnisvolle Ansteckungsgefahr für kurze Zeit. Am 22. Oktober ist der Welttag des Stotterns. Bedanke sich jeder leise dafür, wenn er von diesem Leiden verschont ist!

— 22. Oktober 2013
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