Peinlichkeiten

Ein verloren gegangenes Gefühl oder eine Frage des Zeitgeistes? fragt Christa Schyboll

Was ist eigentlich peinlich und was nicht? Jugendliche wissen spontan todsichere Schnellantworten. Eltern sind peinlich! Fast immer und überall. Zumindest aus ihrem Blickwinkel. Auch dann - oder erst recht - wenn sie sich letztlich wie fast alle Eltern benehmen. Benehmen sie sich aber anders als alle Eltern, dann sind sie oberpeinlich. Ein absolutes No go!

Wenigstens eine Menschengruppe, wo die Sache mit der Peinlichkeit schnell geklärt ist. Aber die Masse der Menschen besteht nun einmal nicht aus Pubertierenden und hat es dennoch immer wieder mit der Frage zu tun, was Peinlichkeit eigentlich ist.

Durch die Veränderungen der Werte in fast allen Gesellschaften verschieben sich auch jene Anschauungen, die Peinlichkeiten einmal fest zementiert meinten. Dabei ist ungewiss, wer oder was es eigentlich ist, der vorgibt, wann man etwas als peinlich empfinden soll und wann nicht. Jeder vermeint zwar, selbst derjenige zu sein, der über solche Wertungen beschließt und sie für sich selbst festlegt, aber dennoch folgen wir unreflektiert auch geheimen Mustern oder starken, aber unbewussten Beeinflussungen in diesen Dingen.

Peinlich ist, was gegen Sitte und Anstand verstößt. Wenn es nur so einfach wäre. Denn wo Sitte und Anstand gleichzeitig als nicht zeitgemäß betrachtet werden oder einer merkwürdigen Auslegung der Begriffes der Toleranz, da kann es mit der sicheren Kategorisierung von Peinlichkeit dann auch nicht mehr weit her sein. Tatsache ist, dass das Gespür für viele junge Menschen immer mehr abhanden kommt. Entscheidend sind neben der Erziehung und dem prägenden sozialen Umfeld natürlich auch die Medien, Film, Fernsehen, Literatur, Showbiz, Politik und überhaupt "die Gesellschaft", die eben Maßstäbe für ihre eigene Zeit setzt.

Interessant übrigens, dass das Wort Peinlichkeit vom griechischen Wort für Strafe ableitet und früher einen körperlichen Schmerz oder zumindest doch eine unangenehme Belästigung meinte. Peinliche Befragungen beispielsweise waren im Mittelalter Verhöre unter Androhung von Folter. Heute ist die Bedeutung eine andere, die etwas Beschämendes meint. Also mehr einen gefühlten Schmerz. Aber ob Schamempfinden oder Peinlichkeit hängt eben in beiden Fällen von der Individualität und ihren Voraussetzungen für solche Empfindungen ab.

Man darf gespannt sein, ob das, was heute nicht peinlich im zwischenmenschlichen Verhalten, in Bekleidung, in Gedanke, Gefühl oder Tat ist, sich irgendwann wieder einmal umkehrt, wenn andere Werte wieder wichtig werden, weil man in diesen Werten eine wahre Qualität erkennt, nach der man sich nun wieder auf neue, geläuterte Art sehnt.

— 05. April 2012
 Top