Schamgefühle und Fremdschämen

Wer schämt sich noch vor wem und warum?, fragt Christa Schyboll

Unsere Gesellschaft kennt nur noch wenige Tabus. Sexualität verkommt in vielen Bereichen schon seit Jahren zur Pornografie auf dem Markt der medialen Bilderflut wie aber auch im Bewusstsein oder Handeln vieler Menschen.

Der Input ist beständig, zuverlässig und hämmert im Stakkato auf Linse und Herz. Das hat Folgen, die man immer deutlicher spürt. Eine davon betrifft die Scham. Sie verschwindet und wird zu einem „altmodischen“ Gefühl, das nichts als Verklemmtheit meint, das sich hinter verstaubten, gedrückten und pseudomoralischen Haltungen duckt. Aber Verklemmtheit, wie sie nicht nur in viktorianischem Zeitalter wie eine Natter gezüchtet wurde, ist etwas völlig anderes als ein natürliches Schamgefühl, was jedoch viele Menschen nicht mehr zu unterscheiden wissen.

Scham betrifft natürlich nicht nur die Sexualität oder die körperlichen Bereiche des Menschen, sondern ist ein Tiefengespür für das Falsche in allen Bereichen des sozialen Lebens. Es kann sich im Außen als Verlegenheit äußern, kann Erröten oder Herzklopfen verursachen oder durch das Senken des Blickes Ausdruck finden. Manchmal findet es aber auch nur im Menschen selbst seinen Ausdruck, ohne dass er äußerlich sichtbar wäre.

Immer hängt es jedoch zusammen mit einer Fehlleistung oder Verfehlung, einer Unzulänglichkeit oder einer persönlich empfundenen Peinlichkeit, gemessen an der eigenen Bewertungsskala, die nicht unbedingt die der anderen Menschen entsprechen muss. Die charakterliche Ausrichtung des individuellen Bewusstseins ist hier der Maßstab, der natürlich durch die Lebensmühle der Prägungen und Erziehungsstile feingemahlen wurde.

Aber für was schämen sich Menschen denn in einer Gesellschaft noch, die durch und durch pornografisiert und brutalisiert ist, wo schamlos die Hände nach allen Seiten aufgehalten werden, schmutzige Deals an der Tagesordnung sind und die Helden der Medien es uns vorleben, wie es sich mit jeder Art von grenzenloser Egomanie vortrefflich erfolgreich leben lässt? Ist Scham bei vielen Menschen bereits eine Art Luxusgefühl geworden, dass nun umgekehrt viel schwieriger wird zu leben, als jede Art von Entgrenzung?

Noch seltener als die Scham ist das Fremdschämen geworden. Es ist ein noch feineres Gefühl für einen Mangel, dass denjenigen, der sich für sein Tun oder Verhalten zu schämen hätte, tief in die eigenen Gefühlsstruktur mit einschließt. Und dort, wo sich der andere der Scham „verweigert“ oder nicht mehr fähig ist, sie aufzubringen, weil alles bereits abgetötet ist, übernimmt ein anderer Mensch dieses Gefühl stellvertretend. Das geschieht unbewusst und schnell und unterliegt in aller Regel auch keiner Zensur rationaler Entscheidungen.. Er schämt sich für ihn oder sie… er schämt sich, dass etwas passiert, was nicht in Ordnung ist und der andere, der es verursachte, nicht einmal bemerkt. Aber diese feinere Ordnung ist für den Täter bereits so zerstört, dass er sie auch nicht mehr wahrnehmen kann und zur eigenen Scham bereits unfähig ist.

Ist die Kunst, sich an der rechten Stelle im Leben für eine Verfehlung schämen zu können, nicht eine hohe und seltene geworden? Und ist die Stellvertreterscham nicht sogar das noch feinere Vermögen, ein unbedingt notwendiges Gefühl dafür zu erhalten, wenn die Welt mit ihrem sensiblen sozialen Geäst einen moralischen Suizid an sich selbst zu verüben droht?

— 18. Oktober 2011
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