Schmerz

"Niemand kann dir wehtun ohne deine Zustimmung?" – fragt Christa Schyboll

Gandhis weise Worte machen nachdenklich. Reflektiert man den persönlich erlebten seelischen oder physischen Schmerz durch andere Menschen, erscheint dieser Spruch zunächst als Hohn.

Wer, so fragt man sich, stimmt denn schon zu, wenn man gequält, geschlagen, missbraucht wird? Es reicht doch schon geärgert oder hintergangen zu werden, um ganz sicher zu sein: DEM habe ICH nicht zugestimmt!

Und dennoch behauptet der Weise aus Indien dies. Solche Sprüche nur als Weisheit in einem stereotypen Lippenbekenntnis von sich zu geben, bringt nicht sonderlich weit und bringt auch keinen Gewinn. Der Segen daraus stellt sich erst ein, wenn man die Wirklichkeit und die Wahrheit dieses Spruches individuell durch eine innere Arbeit errungen hat. Doch dies widerspricht zunächst der gemachten Lebenserfahrung mit Schmerz, die bisher offenbar nicht von einer Zustimmung abhängig war, ob mir jemand weh tat oder nicht.

Natürlich meint Gandhi nicht die Zustimmung des Egos, das darum bittet, geknechtet oder geschlagen zu werden. Er spricht von einer inneren Haltung, die jedoch in vielen Fällen den meisten Opfern überhaupt nicht bewusst ist, weshalb es unter anderem zu Konflikten ja kommt. Die Umstände eines seelischen oder körperlichen Schmerzes können dabei enorm unterschiedlich sein. Nicht nur in der Härte, der Ohnmacht, sondern in jeglicher Qualität, die sich nach den unvergleichlichen Umständen einer Situation richten. Vor allem aber richten sie sich auch nach dem Bewusstsein des Opfers in der gegebenen Konstellation zwischen Täter und Opfer.

Schlimmste Fälle sind aus der Menschheitsgeschichte bekannt, die ahnen lassen, was ein Mensch ertragen kann: Ob es die Fälle der frühen Christenverfolgung waren, wo Menschen mit unglaublicher Kraft und Würde unsäglichen Foltersituationen ausgesetzt waren. Ob man die Torturen aus indianischen Kulturen nimmt oder auch das Durchhaltevermögen politischer Gefangenen mit Grausamkeiten und Peinigungen, die äußerste Schmerzen über Jahre ertragen konnten. Immer wieder überlebten Menschen dies ohne gebrochen zu sein und stärker als zuvor sich ihren Idealen erst recht widmen zu können. Das sind die krassen Fälle, wo am Ende das Leben über den Tod triumphierte, die Liebe über den Hass – oder im Falle des Sterbens der Mut über die schwere Last der Angst.

Im Alltag stehen andere, kleinere Schmerzen an, die einem dennoch das Leben zur „kleinen Hölle“ machen können. Oft sind es „nur“ Ärger, Wut, Frust, erlebte Ungerechtigkeiten, Lügen oder subtile Methoden des Hintergehens, die seelische Wunden hinterlassen und oft nicht einmal geklärt werden können, mangels Beweisen. Dann fragt man sich, so einem diese Gandhiweisheit begegnet, worin denn nun die persönliche Zustimmung wohl gelegen haben mag – und findet häufig darauf keine Antwort.

Aber es gibt sie dennoch. Es ist eine Frage des Nachbohrens, der Ehrlichkeit zu sich selbst und der Reflektion dessen, was einer schwierigen Situation oftmals unbemerkt voraus gegangen ist. Nichts gründet auf Nichts. Es gibt immer etwas, das Auslöser für eine Sache ist, auch wenn der Zusammenhang oft schwierig nur herzustellen und keinesfalls offensichtlich ist.

Gandhis Weisheit appelliert an vieles in uns. Unter anderem an unsere Kompetenzzuweisung, WER denn von den Mitmenschen dazu stark und mächtig genug ist, die eigene innere Festung ins Wanken zu bringen. Wer darf uns womit so erschüttern, dass wir darunter leiden? Woher nimmt er sich Recht und Macht zugleich, mich zu dominieren und warum eigentlich lasse ich so etwas zu? Wo und warum also habe ich selbst Angst, dass es soweit überhaupt kommen konnte?

Diese Fragen sind nur erste Fragen, denen ein ganzer Fragenkatalog individuell folgen könnte und müsste, wenn man sich auf die Spur dieses Geheimnisses macht, das die Wahrheit birgt. Doch leichter ist es für viele, lieber zu sagen: Der oder jener ist schuld – an mir hat es nie und nimmer gelegen!

Dann bleibt es beim Außenfeind und damit dann auch beim Schmerz, der sich so oft noch wiederholen wird, bis man verstanden hat, warum man ihn so oft erleben musste. Hat man den eigenen Part im Drama verstanden, dann hat der Schmerz keinen Raum mehr, sich auszubreiten und keinen Grund mehr, sich zu zeigen.

— 14. Oktober 2010
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