Unerbetene Anrufe

Gesetzgeber oder wilde Geräusche?, hinterfragt Christa Schyboll

Langsam lässt es nach. Der Gesetzgeber hat in einem schwerwiegenden Anfall von Vernunft die Reißleine gezogen. Es ging um nichts weniger als das kollektive Nervenbündel der Steuerzahler.

Denn der Gesetzgeber verdient seine Brötchen nur, wenn er Steuer zahlende Bürger hat. Sind aber erst einmal alle in der Nervenheilanstalt, so muss ihm angst und bange werden um die eigene Existenz.

Und deshalb das mit der Reißleine. Hier im Falle von unerbetenen Anrufen. Türkeireisen, Zeitungsabonnements oder Abonnements auf die eigene Grabstätte – nichts, das nicht vortrefflich zu Mittags- oder Nachtzeiten verkauft werden konnte. Man musste nur einmal JA mit eigener Stimme zu irgendeiner x-beliebigen Frage während es recht merkwürdigen Telefonats sagen und schon war man mit dem Vertrag beglückt. Völlig irrwitzig, wozu man da eigentlich ja sagte. Zum Beispiel auf die Frage, ob man gerade nun zuhause sei. Ja, man sei zuhause. Man telefoniere doch vom Festnetz, also sei man zuhause. Das war eindeutig mit Ja zu beantworten. Der Rest wurde heraus geschnitten. Cut! Man hatte den Vertrag. Man hatte JA gesagt!

Die Schneidemaschinen für Tonaufzeichnungen arbeiten sauber und gründlich. Die Gerichtsmühlen arbeiten langsam. Die Gebühren für Anwälte sind teuer. Der Vertrag zwar ärgerlich, aber bezahlbar letztlich und noch ein klein wenig preiswerter als das drohende Verfahren. Doch dann begann das Volk komisch zu werden. Es murrte über diese ungeliebten Verträge und der Gesetzgeber sagte NEIN zum JA. Das war ein guter Akt. Seitdem geht es vielen besser.

Ich selbst hatte keine Zeit und Nerven, darauf zu warten, ob und wann denn unsere Oberbeschließer Nein zum Ja sagten. Ich sagte vorher schon mal JA zum selbst beschlossenen Nein.

Dazu gehörte eine Bewaffnung des Geistes. Ich musste mich darauf programmieren, dass jede Sekunde meines Lebens – und damit meine ich wirklich jede Sekunde meines Alltags während Tag und Nacht – wieder einer der Vertragsbeglücker es bei mir versucht. Guten Tag, spreche ich mit Frau Schyboll? Nein. Sie sprechen mit einem ihrer obskuren Anteile! Ich sage ihnen gleich: diese Frau ist gefährlich.

Es stockt in der Leitung. Die freundliche Stimme ist anderes gewohnt. Aber sie fasst sich. Sie ist trainiert. Offenbar auch auf Merkwürdiges. Also ich spreche mit Frau Schyboll?, fragt sie ungerührt noch einmal. Nein, antworte ich ebenso ungerührt, sie sprechen mit einer Irren, die jetzt darauf wartet, dass sie ihr schnell einen Vertrag andrehen! Wissen Sie, ich bin nämlich nicht zurechnungsfähig. Ab hier habe ich die Tonleiter einer ersten Hysterie eingebaut.

Es stockt schon wieder. Nicht zurechnungsfähig!, durchströmt es die fremde freundliche Stimme. Sie wägt ab: Mit offiziell Geisteskranken kann es teuer werden vor Gericht. Der Durchschnittsvertragsnehmer ist zwar auch vollständig geisteskrank, aber hat kein offizielles Testat darüber. Dazu ist er sich dessen auch nicht so richtig bewusst und würde es vermutlich glattweg abstreiten. Er gilt also de jure als geschäftsfähig. Geschäftsfähige dürfen Verträge machen. Sogar am Telefon. Aber dieser Fall hier?

Ich atme ganz tief. Absichtlich. Wie ein Tier. Ich merke, dass die kurze Überlegung in blankes Entsetzen übergeht. Ein Tier! Das ist doch kein Mensch! Obschon sie in unserer Kartei steht.

Die freundliche Stimme hat noch eine lange Liste an Anrufern. Vielleicht sollte sie hier besser eine Ausnahme machen? Ein letzter Versuch: Frau Schyboll, wir möchten ihnen eine Reise anbieten. Sie kommt nicht mehr dazu mir zu verraten, wohin. Ich grunze nun wie ein angeschossenes Wildschwein. Ich habe es vorher geübt und es sitzt.

Dann knallt etwas. Ich kenne das Geräusch. Ihr ist der Hörer aus der Hand gefallen. Dann klickt es. Das Gespräch ist beendet.

Wozu brauch ich Gesetzgebungsverfahren? Mit ein bisschen Stöhnen geht’s doch auch! – Man muss sich nur zu helfen wissen, bevor die Masse der Mitbürger die Nervenheilanstalten überrennt und Abgeordnete endlich mal in die Pötte kommen.

— 20. Oktober 2011
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