Widerstand und Selbstverständnis

Geistesgegenwart als Ausweg aus dem inneren Dilemma?, fragt Christa Schyboll

Tim ist wie er ist. Aber wie er ist, gefällt vielen Menschen nicht. Deshalb ist Tim unglücklich. Er möchte gefallen. Er möchte gern anders sein. Aber er möchte auch sein wie er ist.

Dieser Widerspruch scheint ihm unauflösbar. Denn wie immer er ist, irgendjemanden bekümmert er mit seinem Sosein. Sich selbst oder die anderen. Wer aber sollte denn bekümmert oder betrogen werden, wenn man denn schon die Wahl hat?

Aber habe ich denn überhaupt eine Wahl?, fragt sich Tim. Ist er nicht im Zwangskorsett der eigenen Bedürfnisse und seines Soseins gefangen? Ist es denn nicht so, dass man dann, wenn man so sein will, wie man gerne wäre, ständig Ablehnung erfährt? Aber wer kann damit denn glücklich leben? Wir alle, so glaubt Tim, brauchen doch ein Mindestmaß an Anerkennung und Zuspruch. Also müssen wir uns hier und da und dort verbiegen, um es hin und wieder zu ergattern. Mal mehr, mal weniger. Wenn wir artig sind, mag uns jeder. Sind wir dazu auch höflich, wohlerzogen, voller Esprit und Großherzigkeit, liebt man uns über alle Maßen. Tim weiß also genau, wie man die anderen für sich einnimmt. Dieses Wissen allein führt ihn jedoch nicht aus seinem inneren Dilemma heraus. Ihm fehlt es an innerer Entscheidungskraft, wie weit er dabei gehen kann oder soll. Was er sich traut. Welche Portionen Ablehnung er schon verträgt. Manches Verbiegen fällt ihm leicht. Manche Freundlichkeit ist auch kein Verbiegen, sondern authentisch. Aber täglich neu kommen wieder und wieder Situationen, die anderes fordern. Ist er unleidlich, lässt man es ihn direkt spüren. Darunter leidet er. Natürlich könnte er anders sein, sich wieder einmal zusammen nehmen. So sein, wie ihn sich die anderen wünschen. Aber dann leidet er auch. Nur eben mit einer anderen Art von Schmerz. Keine davon ist ihm zuträglich.

Tim ist ganz unfreiwillig Schmerz-Experte geworden. Er probiert beide Wege aus. Er lernt es nach und nach, sich selbst kritisch zu reflektieren. Auch beobachtet er das Verhalten der anderen. Ihnen geht es oftmals auch nicht besser. Die meisten, wie er, auch im Zwangskorsett von Normen, Erwartungshaltungen und Benimmregeln. Wenige, die sich trauen, darüber hinaus zu gehen. Und die sind manchmal üble Typen. Und was ist mit denen, die so ganz unbedarft dies alles nicht einmal hinterfragen? Geht es ihnen besser? Sind sie zu beneiden, weil sie nicht einmal an den Rand von Tims Unglück schleichen? Weil sie im Kokon des Gewohnten und der Gewohnheit verbleiben?

Tim weiß es nicht. Er lässt sich mit dieser Frage aber weder in Ruhe noch wird er sich davon aus der Ruhe bringen lassen. Das beschließt er. Wenn schon unbequeme Fragen auftauchen, die das eigene Selbstverständnis und Handeln in Frage stellen, braucht es dazu nicht noch inneren Zorn auf sich selbst. Oder auf die anderen. Tim hat auch bald gute theoretische Lösungen parat. Aber in der Praxis versagen sie noch häufig. Er ist noch ungeschickt mit sich selbst. Dieser unendlich dicke Zaun schneller Automatismen ist nur langsam zu durchbrechen. Meist spricht und handelt man schneller, als man denkt. Die Geschwindigkeit ist ein Problem für unseren kritischen Verstand, der mit seinen Bedenkenträgereien und Sorgen oft in der Zukunft wurzelt und seine Zweige in die Vergangenheit ausschlägt. Oder umgekehrt. Nein. Beides stimmt. Also kann nur in der Gegenwart die Lösung liegen. Und diese ist Tim oft verdunkelt, weil eben durch schnelle Automatismen überlagert. Manchmal geht es um Millisekunden, ob man lächelt, wo man aber eigentlich nur grinsen wollte. Ob man schreien möchte und stattdessen vollständig verstummt, weil der Schrei nicht erlaubt ist. Tim kann in solchen Momenten eine entsetzlich laute Stille verbreiten. Aber auch das stört niemanden sonst. Man geht darüber hinweg. Zeit fließt schrecklich schnell.

Tim ist nicht ratlos. Aber er ist handlungsgehemmt. Er braucht einfach Zeit. Zeit, die langsamer fließt, damit er besser, ehrlicher reagieren kann. Zeit, die sich für Augenblicke aus sich selbst heraus katapultiert und zur Geistesgegenwart wird. Daran wird er arbeiten. Dann wird vielleicht manches nach und nach einfacher.

— 16. November 2013
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