Ich will erben, du musst sterben!

Satire über den finalen Familienkrieg von Christa Schyboll

Vergessen wir für einen Augenblick lang mal unsere soziale Grundstruktur, unsere Fähigkeit zur mitmenschlichen Zuneigung und unsere persönlich-freundschaftliche, gar intime Anbindung an einen Sterbenden - und widmen uns jenen Momenten des Krieges, der die Wirklichkeit vieler Familien bestimmt, wenn’s ans sterben und… ans erben geht.

Da liegt er nun und kann sich nicht entscheiden. Will er nun weiterleben und uns ärgern oder plant er endlich seinen baldigen Abgang? So wie er das nun schon seit einigen Wochen praktiziert, scheint die Sache auf Unsterblichkeit hinauszulaufen. Vermutlich steht dahinter die böswillige Absicht, einzig die Erben zu ärgern, die ihm nie im Leben was getan haben. Aber genau das verübelt er uns jetzt. Ihr habt nie was für mich getan. Na und? Er wollte doch nie!... Hat sich immer mokiert und gewehrt, wenn wir ihm Gutes tun wollten. Kein Wunder, dass wir es damit dann auch nicht übertrieben haben und uns selten mal im Leben sahen. Aber jetzt sehen wir uns. Täglich.

Aus reiner Hinterlist lebt der alte Knochen weiter. Mal ist er bei Sinnen, mal nicht. Nicht bei Sinnen ist er vor allem dann, wenn er schon wieder mit einer Änderung des Testamentes droht, ohne vorher entmündigt worden zu sein. Die Entmündigung jedoch ist auf dem Sterbebett einfach nicht durchzusetzen, da ist der Richter stur. Eine Testamentsänderung jedoch sehr wohl. Deshalb halten wir Wache. Nicht über Leben und Tod, sondern über unsere Miterben.

Wer ist wie oft und alleine mit ihm im Zimmer? Sind Geräusche zu hören, flüstern sie am Ende miteinander? Immer wieder bittet er uns einzeln hinein und gibt uns zum Zeichen seiner Liebe Spurenelemente seiner Geheimnisse preis, deren finanzielles Puzzleergebnis einfach nicht zustande kommen will. Jeder weiß etwas anderes und nichts vollständig. Es wäre nun recht und billig, all diese Geheimnisse zusammenzutragen. So könnten doch alle Erben in den Genuss der letzten Wahrheit kommen. Aber so einfach macht er uns es nicht, sondern zieht labyrinthische Fäden durch das Knäuel unseres familiären Gemeinschaftshirns mit Andeutungen und gestichelten Seitenhieben und zweideutigen Anzüglichkeiten. Einzig zum Zwecke des Heißen Krieges nach seinem heißen Abgang im Krematorium.

Jetzt kommen die wahren Charaktere zum Vorschein. Wer ist wie geil auf welchen Teil des Erbes mit welchem moralischen oder juristischen Recht oder etwa aufgrund einer verwandtschaftlichen Intimität. Steht am Ende gar eine freundschaftliche Verbundenheit über allem uralten Bluttransfer? Gibt es da irgendwo noch eine alte Kokotte, die sich durch das Bett etwas erschlichen hat und zwar auf der Liste, nicht aber mit am Totenbett steht? Da liegt er nun mit ipod ihm fast tauben Ohr, hört Rammstein statt Bach, intrigiert bis in die dritte Generation unter ihm schielt listig danach, ob irgend jemand vorher von uns an schierer Verzweiflung stirbt.

Ein nervenaufreibendes Geduldsspiel bis er sich entschließt, endlich seinen Aggregatzustand final zu wechseln und einzusehen, dass seine viele Knete seinem Seelenleben wahrlich nichts mehr nützt, so er entleibt in ein Nirwana geht. Oder doch! Doch, sie nützt enorm viel. Er war doch einmal sehr religiös, wenn gleich er das Gebot des Geizes ständig ausgeblendet hat. 1. Timotheus 6, 10, Oh ja, Hans-Heinrich! Geiz ist die Wurzel allen Übels. Lies es nach, du Knauser, Knickstiebel und Rattenspotter.

Vielleicht sollten wir ihm wirklich jetzt ein letztes mal helfen, endlich einmal finanziell etwas richtig zu machen und ihm die entsprechenden Bibeltexte vorlesen. Auch könnte ein zart geflüsterter Hinweis wirken, wie sein Schicksal mit der Glut des Fegefeuers verbunden sein wird, so er sich nicht im rechten Augenblick besinnt, auf die Menschen, die ihn lieben. Auf uns, die wir in Geduld seit 156 Stunden bereits harren.

Hans-Heinrich, sei gut zu dir! Stirb endlich und gib Ruh!

— 03. August 2010
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