Anwesenheit

Tabuzonen der Verträumten und der stillen Denker – von Christa Schyboll

Lisa ist so eine. Sie ist nie richtig anwesend. Egal wie körperlich präsent sie im Raum ist. Spricht man sie an, kommen die Antworten oft verzögert. Leichte Verwirrtheit spielt in ihrem Gesicht ein hübsches Licht- und Schattendasein.

Nicht selten haucht sie die Ahnung einer noch nicht gestellten Bitte zum Gegenüber, die darauf abzielt, man möge sie doch in Ruhe zu lassen. Es ist nicht einfach, sie anzusprechen und zugleich hoffen zu können, dass der Zeitpunkt ein passender ist. Sie gehört zu den Menschen, die einem das Gefühl vermitteln, ständig Kopfschach gegen sich selbst zu spielen. Natürlich stört man quasi immer. So spricht man sie nur vorsichtig und fast leise an, bereit, sich sofort in den eigenen unterirdischen Bau zurückzuziehen, wenn sich eine steile Falte auf ihrer Denkerstirn aufbaut.

Verträumte oder geistig sonst wie abwesende Mitmenschen schaffen oftmals eine Aura um sich, die sie als Angehörige der Kaste der Nicht-zu-Störenden ausweist. Wie ein Einbrecher kommt man sich vor, so man ungefragt in diese Zone ihrer Intimität eindringt und ungefragt das Wort an sie richtet.

Franz ist auch so einer. Aber was bei Lisa eher konzentriert wirkt, wirkt bei ihm mehr träumerisch. So als sei er auf einer imaginären einsamen Insel, die andere Menschen nur als Fata Morgana in den Stunden des nackten Entsetzens hin und wieder verbal bemühen. Selbstverständlich ohne den Kraftaufwand, sich ihre einsame Insel auch nur im leisesten konkret vorzustellen. Ganz anders Franz. Er lebt bereits auf ihr und scheint umgekehrt sein physisches Gegenstück in Zeit und Raum auf das Abstellgleis des Lebens gestellt und in unserer Großfamilie nun entsorgt zu haben.

Lisa und er haben gemeinsam, dass man sie in Ruhe lässt. So absolut, dass man nur neidvoll auf diesen Nimbus blicken kann. Sie wären die letzten, die man fragen würde, ob sie nicht doch beim Umzug helfen, die Kinder mal abnehmen oder, na ja, … die Oma. Dabei gehören sie genauso zur Familie und werden die gleiche Summe Geld erben, falls die nächste Wirtschaftskrise nicht gleich zur globalen Währungskrise mutiert und all das schöne Erbe vorzeitig zu Schanden macht.

Ist das etwa gerecht? frage ich mich immer wieder und versuche dann, mich ähnlich zu benehmen. Alles was dabei rauskommt, sind jedoch nur laute Lacher meiner Mitmenschen und die intensiv häufig formulierten Bitten, ob ich denn am Wochenende nicht vielleicht die beiden Racker nehmen könnte. Natürlich zu den eigenen. Man hat ja sonst nichts zu tun! Und die Rolle der Nichtzustörenden, die ich doch so gerne im Leben auch mal einnehmen würde, weist mich leider als hoffnungslos unbegabt dafür aus.

— 21. Oktober 2010
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