Stress am Arbeitsplatz

Die schlimme Sache mit der Nuss. Von Christa Schyboll

Helmut ist Hörgeräte-Akustiker. Er liebt seinen Beruf. Er engagiert sich mit Leib und Seele. Und er leidet unter Stress. Denn wie fast überall herrscht auch bei ihm Personalmangel. Das aber darf er sich nicht anmerken lassen. Das kommt nicht gut bei der Kundschaft an. Bei einer schwerhörigen erst recht nicht.

Der kann man ja nicht einmal Zusammenhänge vernünftig erklären. Helmut braucht besonders sensible Kommunikationsformen. Hörgeschädigte können sehr empfindlich sein, wenn man sie ständig anbrüllt.

An manchen Tagen wird der Stress zur Qual. Um nicht zu unterzuckern, steckt sich Helmut deshalb gern mal eine Nuss in den Mund. Walnüsse mag er gerne. Die halbierten vor allem. Die so aussehen wie Gehirne. Gleich zu gleich gesellt sich gern, denkt er dann und freut sich. Sie sind schön knackig. Sie vermitteln ihm ein Gefühl angenehmer Fülle im Gaumen. Das befriedigt Helmut sehr. Also für den Moment zumindest. Zu vernünftigen Pausen ist an vielen Tagen einfach keine Zeit.

Gestern war wieder so ein Tag. Keine Zeit fürs zweite Frühstück. Die ganze Nation schien gehörlos zu werden. Die Kunden standen Schlange. Irgendwann war der letzte abgearbeitet. Jetzt aber. Schnell. Eine Nuss. Nein. Zwei von den Halben. Wer weiß, wann der nächste…

Das Telefon bimmelt. Er greift zum Hörer. Dann brummt auch noch sein Handy in der Tasche. Es muss weiter brummen. Das Geschäft geht vor. Im Mund warten zwei ordentlich dicke Nusshälften endlich auf den Beginn der Tätigkeit des Kauens. Die Dinger kann man aber nicht unzerkaut runterschlucken. Dann erstickt man. Auch wenn fünf Telefone zugleich bimmeln. Helmut hat den Hörer bereits in der Hand. Dann geht die Türklingel. Zwei ältere Damen kommen herein. Er kennt sie.

Sein Mund ist ehrlich darum bemüht, am Telefonhörer Sprache zu formen. Das ist schwierig mit zwei Nüssen im Mund. Was er sagt, klingt mehr als verwaschen. Aber nun stehen auch die Damen vor ihm. Er mag aber die beiden angekauten Nusshälften, die sich gefühlt verfünffacht haben, nicht spontan ausspucken. Solche sinnvollen Aktionen sind seinem gerade voll unterzuckerten Hirn verwehrt. Er versucht einen dreifachen Salto. Er will sprechen, schneller und heftiger kauen und die alten Damen zugleich begrüßen. Sie kaufen immer die neuesten Geräte im hohen Preissegment. Zu denen muss man freundlich sein. Sehr sogar. Auch mit vollem Mund und einem anderen Gesprächspartner in der Leitung.

Am Ende des Telefonhörers schreit jemand. Die alten Damen hören es. Ihre Geräte sind teuer und gut. Helmut versucht eine Antwort zu formulieren. Es klingt ein wenig wie ein sibirischer Dialekt. Der andere schreit, dass er ihn, Helmut nicht verstehen kann. Das kann Helmut gut verstehen. Er versteht sich ja gerade selbst nicht. Nicht nur akustisch. Sondern überhaupt. Helmut kaut schneller. Dabei spricht er auch schneller. Die Folge ist weiteres Geschrei am Ende des Hörers.

Die alten Damen gucken Helmut merkwürdig an. Dann sich selbst. Ihre getauschten Blicke sind mehr als nur unangenehm. Helmut spricht nun wieder. Dabei lässt es sich nicht vermeiden, dass ein Teil der zu Nussbrei verarbeiteten Masse in seiner Mundhöhle nach außen krümelt. Das sieht überhaupt nicht appetitlich aus. Helmut ist es peinlich. Er wischt sich mit dem Ärmel über den Mund. Nun hängen die Nusskrümel auf seinem dunkelblauen Pullunder. Sie stechen schön hell ab. Das sieht er aber nicht, weil er die alten Damen freundlich anschauen muss. Die Damen wiederum schauen nun interessiert auf seine Brust. Wenn Helmut nun weiter spricht, werden noch mehr Nussteile einen anderen Ausgang als geplant finden. Er schluckt tapfer.

Dann verschluckt er sich. Der Gesprächspartner kreischt weiter. Ein alter Mann der Stimme nach. Er beschwert sich. Helmut prustet. Er bekommt keine Luft. Er lässt den Hörer fallen. Die eine der alten Damen nimmt ihren Stock. Sie humpelt hinter den Tresen. Sie schlägt mit dem Stock auf Helmuts Rücken. Er hebt die Hände hoch. Nein, nicht weil er glaubt, sie bedrohe ihn. Sondern nur, um einfach besser Luft zu bekommen. Er wird ganz rot im Gesicht. Die Tür geht auf. Dort steht eine schöne junge Frau. Schöne junge Frauen sind aber Helmut schnuppe, wenn er gerade am ersticken ist und dabei auch noch verhauen wird.

Helmut macht sehr komische Geräusche. Er zieht Luft hoch und presst sie raus. Die eine klopft weiter. Die andere feuert ihn an. Aushusten soll er. Aber das macht er doch schon. Die junge Frau ist irritiert. Sie kann die Szene nicht ganz einordnen. Sie entschließt sich zu einem geordneten Rückzug. Die Batterien kann sie auch woanders kaufen. Er wird doch wohl die alten Weiber allein in den Griff bekommen!

Helmut fuchtelt nun weniger mit seinen Händen. Der Stock steht wieder auf dem Boden. Sein Pullunder ist voll mit Nussbrei. Das Handy bimmelt nicht mehr. Der Mann am Telefon schreit nicht mehr. Die eine Kundin schlägt nicht mehr. Die andere Kundin feuert ihn nicht mehr völlig unnötig an.

Eigentlich wäre jetzt der Moment, in Ruhe mal zwei Nusshälften zwischen die Zähne zu schieben. Man kommt ja sonst zu nichts.

— 19. Juli 2013
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