Hinterm Horizont

Sehnsüchte und Tagträumereien. Von Christa Schyboll

Katja lebt im Alltagsstress. Kinder, Beruf, Partnerschaft. Zeit ist Luxus, Geld ist Zeit. Und beides oft unzureichend vorhanden. Katjas Hier und Jetzt ist quälend, anstrengend und oft nervenaufreibend.

Um diesen Zustand zu lindern, träumt Katja. Mitten am Tag, so oft sie kann. Während der Arbeit versteht sich. Oder während des Einkaufens, Putzens, Windelwaschens oder in Warteschlangen. Sie träumt sich hinter den Horizont.

Doch was steckt da? Sie hofft, ein anderes Leben. Sicher kann sie sich nicht sein. Aber sie bildet sich Bilder dazu ein. Tagtraumbilder. Ihr Mann verdient in dieser Realität wesentlich mehr als jetzt. Sie kann sich beruflich entwickeln, weil sie durch ausreichendes Hauspersonal enorm entlastet wird. Und weil sie fast nichts mehr zu Hause tun kann, hat sie auch mehr Zeit für die Kinder.

In der knallharten Wirklichkeit macht Katja gerade einmal wieder einen dicken Fehler. Sie muss zum Chef. Er tobt und schimpft. Er hat Recht und sie hat keine Ausreden. Die Träumereien halt. Die vom Blick hinter den Horizont, wo alles schöner und besser ist.

Katja reißt sich zusammen. Eine Stunde geht es gut. Dann muss sie aber wieder schnell träumen. Sie träumt sich nun mit ihrem sehr gut verdienenden Traumpartner in schönes Haus am Meer. Die Kinder lieben doch das Meer so sehr. Alles ist perfekt. Und nun kommt zu allem Glück auch noch ein Superangebot ihres Arbeitgebers zur Verwirklichung ihrer enormen Talente. Im Tagtraum, versteht sich. Begierig greift Katja zu. Das ist die Chance überhaupt. Nun darf sie reisen. Weltweit. Erste Klasse. Sie ist eben wer. Sie gehört zu denen, die es geschafft haben. Der Horizont ist nicht mehr hinten. Sie ist mitten drin. Denkt sie. Aber während ihrer imaginären Flugreisen kommen ihr nach und nach Bedenken. Die Kleine ist in der letzten Zeit mit den Noten abgeschmiert. Kein Wunder, sie selbst ist ja auch nur noch selten Zuhause. Die Karriere. Das Personal ist zwar da. Aber diese Aufgabe schafft es wohl nicht. Ihr Gatte auch nicht. Sein hohes Gehalt fordert seinen Preis. Er muss eben noch mehr verdienen, denkt Katja. Dann können wir uns eine richtige Erzieherin leisten und nicht nur Koch- und Putzpersonal. Qualität kostet. Vor ihr geht gerade die Sonne unter. Doch, es gibt immer noch einen Horizont. Immer noch einen, der weit weg ist. Immer da, wo man selbst nicht ist. Das spürt sie in diesem Augenblick.

Katjas Kollegin schneit in ihre Traumzeit. Mittagspause. Das hatte sie fast vergessen. Sie war wieder ganz versunken. Obschon doch erst am Morgen diese Chef-Schelte kam. Katja reibt sich die Augen. Was ist mit ihr los?, fragt sie sich selbst. Warum ist es woanders immer schöner als dort, wo man sich gerade befindet? Haben Träume niemals ein Ende? Sind sie ein verführerisches Gespinst, in dessen Fängen man sich unweigerlich verstrickt und die Gegenwart dabei komplett verpasst?

Katja lässt die Träumerei. Sie geht in die Kantine. Sie denkt an ihre kleine Tochter. Sie denkt an Finn, der gerade mit der Pubertät beginnt. Sie denkt daran, wie schwierig es sein würde, wenn sie sich jetzt so total verwirklichen würde, wie sie es sich erträumt. Sie weiß: Sie hätte dann ebenfalls einen harten Preis zu zahlen. Oder die Kinder. Oder gleich die ganze Familie. Man zahlt immer. So oder so, befindet Katja leise für sich.

Wozu also die Träumerei? Ist es nicht besser, sich an dem zu freuen, was ist? Katja macht sich nach einigen Stunden auf den Heimweg. Nachdenklich, nicht träumend. Auch in Bezug auf das, was der Chef anmahnte. Fehlende Geistesgegenwart. Mangelnde Konzentration. Wäre die Behebung solcher Mängel nicht effektiver als all die Träumereien, die zu nichts führen? Sie weiß es nicht. Aber sie will diese Alternative erst einmal versuchen. Vielleicht ändert sich alles. So ganz ohne Träumerei. Einfach, weil es auch real möglich ist und der Preis nicht einmal zu hoch.

— 26. Oktober 2013
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