Umfragen

Die innere Not mit dem vorprogrammierten Chaos fürchtet Christa Schyboll

Immer wieder neu taucht eine Frage in mir auf: Fördern Umfragen eigentlich das Entstehen neuer Probleme, in dem man den Menschen anschließend statistisch beweist, dass es sie gibt? Oder ist es vielmehr so, als würde man die Lösung für ein einziges Problem mit einer Umfrage eher erreichen?

Den Umfrageinstituten mag es egal sein. Sie brummen, weil die Menschen immerzu wissen wollen was los ist. Ganz heiß sind sie darauf. Wie viel Limonade trinkt ein Kosovo-Albaner im Mai? Warum bevorzugen Milliardäre Brünette, obschon doch damit zu rechnen ist, dass diese intelligenter sind? Wie viel Klopapier reisst ein Vierjähriger von der Rolle, wenn man ihn völlig unkontrolliert sein Geschäft machen lässt? Trägt er am Ende zum Familienruin bei? Und was bedeutet das für die nachfolgende Generation?

Diese Fragen sind wichtig. Hinter jeder Frage steht nicht nur eine Gruppe, sondern stehen ganze Gruppenschicksale. Hier wird tief ins Leben von Gruppenverbänden eingedrungen, das doch mehr umfasst als die Holzverarbeitungsindustrie im Falle von Toilettenpapier oder einer neuartigen natürlichen Schnelltönung für Blondinen nach Bekanntwerden neuer Milliardärs-Vorlieben. Hier wird eigentlich mit jeder Umfrage Geschichte geschrieben, die die Welt verändert.

Vor allem die Geschichte der Beschränktheit menschlichen Geistes. Lese ich mir Umfragen durch und bemühe mich, ernsthaft mitzuspielen, wahrhaftig zu sein, ergeht es mir schlecht. Man lässt mir genau genommen keine Chance. Diese Multiple-Choice-Antworten sind ja wirklich prima zu handhaben. Dabei ist die Entscheidung zwischen vier, fünf oder sechs Kategorien für mich durchaus akzeptabel. Man muss es ja nun nicht bis zur fünften Stelle hinter dem Komma wissen. Die Grobrichtung hilft schon, den Personalvorstand dieser oder jener Branche dann auf die Hinterbeine zu bringen.

Das Problem sind also nicht die vorgegebenen Antworten, sondern die Fragen an sich. Die Fragen sind falsch. Sie sind mir zu schlicht. Sie sind so schlicht, dass ich sie nicht mehr wirklich verstehe. Denn bei jeder schlichten Frage kommen mir sofort Bedenken. Sie regen nämlich beim Nachsinnen meine Phantasie an. Eine Art sparsames, dezentes Feng-Shui für den Geist, mit einer hochwirksamen Potenz. Meinen sehr willigen und antwortbereiten Geist, der jetzt jede Menge Fragen zur Frage erst einmal deshalb hätte, weil hinter jeder Kurzfrage doch ein komplexes System von Überlegungen steht, das mich zu überfluten droht.

Ach, was sage ich! Droht!?... Lawinenartig kommen nun die Inspirationen, deren schlichte, einfache Frage der Kern war. Und dann stehe ich da. Frustriert, mit leerem Bogen. Ich kann die Kategorien nicht auswählen, weil vorne und hinten nichts mehr stimmt. Noch immer warte ich sehnsüchtig auf eine erste Umfrage, die meiner eigenen Schlichtheit so angemessen ist, dass durch ihre differenzierte Genauigkeit in der Fragestellung die Eindeutigkeit eines Ja, Nein, oder Vielleicht doch irgendwann einmal möglich ist.

— 19. Mai 2011
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