Der falsche Ton

Von der Problematik im Umgang mit andern, von Christa Schyboll

Das Bemerkenswerte am "falschen Ton" ist, dass er sich unter allen Tönen offenbar das größte Terrain im Gehör und der Seele der Menschen gesichert hat. Keiner mag ihn, aber fast jeder erzeugt ihn. Erzeugt er ihn, erkennt er ihn jedoch zumeist nicht einmal und glaubt, dass es am Gehör des anderen liegt oder seiner momentanen Empfindlichkeit.

Gehört wird der "falsche Ton" aber immer. Selbst dann, wenn er richtig war und nur als "falsch" interpretiert wird, weil der Hörende gerade in einer völlig anderen, dunklen oder belastenden Stimmung verharrt.

Den "richtigen Ton" zu treffen ist eine Kunst. Vor allem dann, wenn es tonlos und klanglos zugeht und dennoch ein innerer Ton erfolgt. Beim tonlosen Ton fehlt die Modulation der Stimme, die das Gefühl ausdrückt, was zu schwerwiegenden Missverständnissen führen kann. Erst recht, wenn Ironie mit im Spiel ist, die ein noch feineres Erlauschen braucht. Problematisch sind diese Tonspektren zum Beispiel beim Lesen einer Mail, beim Hinschauen auf einen anderen Menschen oder bei der absichtlichen oder völlig unabsichtlichen Berührung. Dabei braucht kein einziges Wort zu fallen, aber dennoch wird ein Ton erzeugt, der angenehm oder unangenehm empfunden wird. Oft sogar beidseitig polar, was die Sache noch verkompliziert.

Distanz wäre ein Zauberwort. Warum aber soll Distanz gewahrt werden, wenn es zum Beispiel um Nähe geht, um notwendigen Klartext, um Richtigstellungen, um die Vermeidung oder das Ausbügeln von Missverständnissen. Da braucht es oft jene vertrauensvolle Nähe, dass man über den richtigen oder falschen, den wichtigen oder völlig unangebrachten Ton sich ja erst einmal verständigen muss. Denn natürlich sehen die Kontrahenten im Orchester des Klangwirrwarrs die Sache mit dem Ton äußerst verschieden … und verhalten sich dementsprechend aufgeregt oder beleidigt, ziehen sich zurück oder gehen in die Offensive eines Gegenangriffs auf den vermeintlichen oder auch echten Angriff. Den verschiedenen Interpretationen sind hier Tür und Tor geöffnet und jeder wird auf seine "eigene" Wahrheit und Wahrnehmung zurück geschmissen. Schwierig, wenn dabei dann aber wieder wohl tönende Harmonie neu erobert werden will. Zerstört ist schnell! Der Aufbau jedoch ist unter Umständen zäh und schwer.

Was bleibt, ist oft Missklang. Eine Disharmonie jener Töne, die ein gutes Miteinander in aller Offenheit derzeit oder auch für länger unmöglich macht. Warum es so weit kommt, hat individuelle Vorgeschichten. Jene fallen aber zumeist in der Aktualität und Geschwindigkeit des Ereignisses unter den Tisch, weil keiner die hintergründige Komplexität solcher schiefer Tonlagen so schnell verstehen und enträtseln kann, da u. a. auch Erinnerungslücken oder einseitige Schmerzerlebnisse eben jene Tonskala mit bestimmen können.

Was falsch und was richtig an einem Ton ist, entscheidet ja nicht nur jeder für sich selbst, sondern wird vor allem von der eigenen Betroffenheit mit entschieden, die keineswegs immer über die innere Souveränität verfügt, wenn Gefühle oder negative Erlebnisse mit im Spiel sind, Altlasten, die nie aufgearbeitet wurden oder auch verdrängte Anteile, die sich an anderer Stelle plötzlich Luft verschaffen. Dennoch kann es manchmal auch untrüglich sein. Die Betroffenheit koppelt sich in manchen Fällen aber auch gern ab von der Vernunft und ist zu meisterlichen Verwicklungen begabt, die sich blitzschnell in einem scheinbar emotional autonomen System genauso entwickeln, wie die Bereitung von Enzymen und die Bereitstellung der Hormone in der Bauchspeicheldrüse. Auch dies jedoch in der Regel mit Vorgeschichten, die dazu gehören, obschon man ihrer nicht gedenkt.

Erkennt man selbst den "falschen Ton" im Nachhinein bei sich selbst, ist ein kleines "sorry" das Mindeste. Das ist aber vielen Menschen schon schwer bis unmöglich, weil der Stolz oder das "Wahren des Gesichtes" dies einfach nicht über die Lippen bringen. Aber manchmal hat man ja auch gar keinen Fehler gemacht, sondern wird nur deshalb des "falschen Tons" bezichtigt, weil man eine unangenehme Wahrheit offen aussprach, für die es den "richtigen Ton" einfach deshalb in diesem Augenblick nicht gab, weil allein das Aussprechen selbst schon zum Sakrileg wurde. Hier geht es dann weniger um den Ton als um die Zeitqualität…. Doch wer unterscheidet dies schon in solchen Momenten!

Der richtige oder falsche Ton ist natürlich eine Sache des Vertrauens. Vertraut man sich wenig oder unzureichend, ist der "falsche Ton extrem" schnell getroffen. Vertraut man sich tief und ist diese Tiefe noch nicht erschüttert, ist die Bandbreite des Tons ungeheuer weit dehnbar, ohne dass etwas durch emotionale Schallwellen zerschellt.

— 17. August 2011
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