Schwarze und Weiße Löcher

Kosmische Phänomene im schnöden Alltag der Vergesslichkeit, von Christa Schyboll

Schwarze und Weiße Löcher sind nicht nur Phänomene in den Weiten des Universums, sondern ganz profan meines direkten physischen Umfeldes. Dinge verschwinden.

Sie verschwinden so schnell, so spontan, dass ihre Fluchtgeschwindigkeit die Lichtgeschwindigkeit überschreitet. Sonst hätte ich vielleicht ja eine Chance. Phänomenal dabei ist, dass es sich nur um bestimmte Dinge handelt. In meiner stark verzerrten Raumzeit geht es dabei um einen kleinen, aber sehr entscheidenden Teil mit wichtigen Funktionen, die den Ereignishorizont verlassen. Vorwiegend handelt es sich um mittelgroße Gegenstände wie Brillen, Geldbörsen, Scheckkarten, Ausweise und Schlüsselbund. Noch nie hat es einen Eierschneider, einen Hammer, eine Salatschüssel oder ein T-Shirt betroffen. Einzige Ausnahme dazwischen bilden einzelne Socken und hin und wieder ein Buch.

Da es sich bei den erstgenannten Dingen um wesentliche Gebrauchsgegenstände handelt, deren Abhandenkommen massiven Zeitverlust und auch Ärger bedeuten kann, ist diese Art von Gravitationskollaps äußerst Nerven zehrend. Nicht selten kommt es dabei zu zwischenmenschlichen Gefechten, ob nicht doch der eine oder andere vielleicht … usw. Aber nein, keiner ist Schuld. Es ist der Einbruch des Kosmos in unseren häuslichen Alltag. Die Familie und speziell der Besitzer des Gegenstandes ist und bleibt unschuldig.

Versucht man sich zu erinnern, wo man den vermissten Gegenstand zuletzt denn bewusst gesehen oder hinterlegt hat, geschieht das nächste Phänomen. Es ist gelöscht! Irgendein Virus hat sich auf unsere menschliche Festplatte eingeschlichen. Er verunmöglicht es, die Sache wenigstens bis an den Rand des Schwarzen Loches noch nach zu verfolgen. Ein Abstoßungseffekt macht sich bemerkbar, der die Psyche betrifft, die sich weigert, auch nur den Hauch einer richtigen Erinnerung freizugeben. Stattdessen kommen wirre falsche Vorstellungen ins Spiel und man sucht vor lauter Verzweiflung an den unmöglichsten Stellen. Vielleicht gibt es ja Hoffnung, dass ein mentaler Aussetzer doch den Kühlschrank mit dem Dielenschrank verwechselt hat? Die ständige Hetze wäre ja eine Erklärung. Doch der Kühlschrank stellt sich unbeteiligt, zeigt nur die übliche Überfüllung und fordert gerade dazu auf, ihn besser schnell wieder zuzuschlagen.

Es gibt auch Weiße Löcher. Zumindest ist es ein hypothetisches Modell, das Trost spendet. Hier wird keine Materie aufgesaugt, sondern wie mit Zauberhand wieder abgegeben. Sozusagen ausgespieen. Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik bleibt aber eine vage Unsicherheit. Bei uns ist es in der Regel so: Die Aktivität des Weißen Loches wird immer nur dann anschaulich, wenn der neue Ausweis endlich dann nach lästigen Umständen auf dem Amt bezahlt und abgeholt ist oder der Schlüsselbund für teures Geld nachgemacht ist. Oder eine neue Brille beim Optiker geordert bzw. die neue Scheckkarte mit der neuen Nummer und neuen Pin endlich wieder neu aktiviert und gebrauchsfähig ist.

Das sind die Gnadenmomente, auf die man lange wartete – und die nun zu spät kommen. Wir haben zurück, was wir nicht mehr brauchen. Aber wir sind keinesfalls davor gefeit, dass in sehr kurzer Zeit das Phänomen wieder unbarmherzig zuschlägt.

— 30. Oktober 2010
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