Durchtriebenheit

Über Skrupel als Hemmung zum Handeln philosophiert Christa Schyboll

Entwickeln Sie manchmal regelrechte Eifersuchtsattacken auf eine Fähigkeit, die Ihnen total abgeht aber viele andere Menschen locker drauf haben?

Kann es sein, dass Sie dann ihren Zorn bebend gegen die Schöpfung richten, die irgendwie für Ihr Sein mit verantwortlich zeichnet? Wenn Sie innerlich bejahen, haben Sie in mir eine Schwester im Geiste. Auch mir geht es manchmal so. Vor allem dann, wenn ich auf jene Spezies treffe, Dir mir mit einer ganz bestimmten Eigenschaft um Längen voraus ist: der Durchtriebenheit!

Jene Kunst der Arglist und Gerissenheit, die keine Intrige auslässt und dabei unter Umständen sogar noch pfiffig ausschaut. Der Einsatz listiger Winkelzüge, die mich übertölpelt und mit Schläue in die Enge treibt. Treffe ich auf solche Menschen, fühle ich meine Behinderung. Ich bin nicht vollwertig auf diese Erde gekommen. Ich bin nicht einmal im Ansatz in der Lage, mit in den Ring zu steigen, ohne mit blutiger Nase und Hämatomen am Frontallappen und der Kleinhirnrinde dort auch wieder herauszukommen.

Wumm! Der erste Hieb gemeiner Täuschung, die nicht im gleichen Moment gegen zu beweisen ist, sitzt bei mir schon so, dass mein Hirn aussetzt. Ich bin solcher Durchtriebenheit einfach nicht gewachsen. Das hindert mich jedoch nicht daran, sie dennoch frühzeitig zu orten. Sie spricht von allen Seiten hörbar zu mir, lässt sich von mir lesen. Vor allem am Mund des Gegners. Dort sitzen bemerkenswert flexible Muskeln. Die Augen sind quasi neutral. Starr, unbewegt. Aber die Lippen! Sie lächeln spöttisch mit jenem Schuss Hohn, der verächtlich auf meine Ohnmacht schaut und exakt darum weiß und sich genüsslich darauf freut. Manche Lippen verkleiden sich kurzfristig in Freundlichkeit, bevor sie scharf oder spitz, in jedem Fall aber boshaft ihren verletzenden Zynismus endlich frei herauslassen.

Ich sehe es mit wachem Verstand. Ich weiß, gleich kommt es! Die Flanke reißt Löcher in die rechte Seite meines Gehirns. Jene, die nicht so schnell antworten kann, weil sofort eine linksseitige Lähmung auftritt, die sich des Sprachzentrums bemächtigt, das im Broca-Areal haust. Tausend Achtungsfallen, die mich warnen und nicht mehr adäquat handeln lassen. Dabei wusste gerade meine rechte Hirnhälfte todsicher in prophetischer Manier um die nächsten Sekunden.

So ergeht es Behinderten. Jenen, die benachteiligt wurden bei der Vergabe von Talenten in Bezug auf gewisse egoistische Kräfte. Man rüstete manche von uns unstatthaft aus und verwehrte ihnen scharfe Munition, um solche Kräfte direkt zu stoppen. Alles empört sich im Menschen darüber. Von den Haarspitzen bis zum Fersensporn. Alles bäumt sich auf, stülpt Magenwände nach außen vor Ärger. Die Galle läuft über oder versteinert. Je nach dem. Aber der eigene Mund bleibt still. Die eigenen Mundwinkel allein folgen der Schwerkraft. Der Rest ist Ohnmacht, die sich der Sprachlosigkeit für den Augenblick bedient.

Durchtriebenheit gleicht einem Erdbeben. Oder einem Vulkanausbruch mit verstopften Ausfallstraßen. Man ist ausgeliefert. Man zündet selbst nicht. Skrupel haben das Haus besetzt. Mit den gleichen Waffen zurückzuschlagen geht über die Last des Gewissens. Was man selbst zutiefst ablehnt, will man auch nicht anwenden. Aber wo ist der Stopp? Wo der Befehl, der stark genug ist, ein Innehalten zu gebieten?

Manchmal fahren Rachegedanken mitten durchs Herz. Raketen werden abgefeuert. Nicht einmal zehn hoch dreizehn Gleitkommandooperationen im Großhirn wissen die Situation zu steuern. Das Herz wehrt ab. Die Skrupellosigkeit kann einfach keinen Anker schmeißen. Nicht einmal eine Rettungsweste in Sicht. Das Herz ist längst besetzt durch anderes. Die Tür ist zugeknallt auf immer. Durchtriebenheit sucht sich andere Herzen. Sie findet noch viele. Überall dort, wo die Tür aber zu ist, pocht zumeist noch ein Schmerz. Doch auch der ist nur vorübergehend. Panta rhei.

— 02. November 2011
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