Selfies

Wann, wenn nicht jetzt?, fragt Christa Schyboll

Ist es die Lust auf die Einzigartigkeit, die uns zu Selfies treibt? Brauchen wir dafür eine Demonstration übers globale Netz? Oder macht die Einzigartigkeit ohne globale Bedeutungt einfach weniger Spaß, weshalb auch die Mächtigen der Welt den Finger immer am Drücker haben?

Wer wichtig ist, muss gesehen werden. Wer gesehen werden will, muss etwas dafür tun. Diese Selbstzelebration ist mittlerweile für immer mehr Menschen leicht, schnell, preiswert und global zu inszenieren. Das Problem ist lediglich die Konkurrenz. Es gibt Abermillionen, die das Gleiche wollen und zur quasi gleichen Zeit: weltweit gesehen und wahrgenommen werden und… natürlich auch geliked werden. Möglichst Täglich, manche gern auch stündlich. Sie bekommen nicht genug von sich selbst. Und sie bekommen nicht genug davon, dass sie für andere Menschen doch endlich auch einmal interessant sind… und sei es nur für Sekunden. Daumen hoch! Dann bin ich wer! Das sind die Freunde. Die Guten. Also die Gruppe, zu der man selbst auch gehört. Daumen runter?... Das sind die Neidhammel… auf was auch immer. Die Bösen. Aber auch die liken. Dann funzt es Rache!

Selfies rasen in Nanosekunden über die Datenautobahnen der Netzwelt. Milliarden von Menschen suhlen sich im Wohlbehagen der Vorstellung, dass der Rest der Menschheit sie unbedingt partout nun optisch kennen lernen muss. Ob Bild oder Ausstrahlung dabei schön und angenehm ist, liegt im Ermessen des Betrachters. Aber das interessiert den Selfie nur zweitrangig. Erstrangig ist: Ich bin dabei! Ich werde gesehen! Alle Welt lernt mich kennen. Man nimmt mich wahr. Ich fühle mich wichtiger als je zuvor im Leben. Ich bin. – Und dann die notwendige Kontrolle: Wer like? Von welchem Land oder Kontinent aus? Oh, ich bin auch in China schon wohl bekannt! Wie viele Rückmeldungen gehen ein? Wie? Nur hundert?

Fällt all das nun unter Exhibitionismus, Egozentrik, Eitelkeit, Geltungsbedürfnis oder doch eher unter Narzissmus? Hat es vielleicht von allem eine Spur? Oder ist es doch mehr als Spaß, Fun, Action, Zeitvertreib anzusehen, weil einem einfach nichts Besseres einfällt, als sich selbst fotogen durch den Orbit zu jagen? Steckt bei manchem Galgenhumor oder die schiere Verzweiflung am Ende dahinter? Was ist es, dass den Selfie zu sich selbst treibt, ohne jemals bei sich anzukommen? Ist man bedeutender, in dem man sich kostenlos an die Welt verschenkt, die keineswegs nach einem gerufen hat? Das wird wohl niemand ernsthaft behaupten. Erfühlen aber eventuell schon. Und diese Diskrepanz zwischen Gefühl und Gedanke ist höchst interessant dabei. Denn wenn sich da viele Daumen recken, ist man doch dem eigenen Gefühl nach ein wenig mehr Wert als vorher, wo niemand von der eigenen Existenz überhaupt wusste, geschweige ihr noch einen hochgereckten Daumen digital entgegenstreckte. Da mag der Verstand gegen meutern wir er will, der Bauch erfühlt es sonnenklar!

Normalo oder Narziss?

Der Selfie braucht sich doch nur selbst nüchtern zu fragen: Wann bekommt man im Alltag schon ungefragt so viele Komplimente wie bei solchen Aktionen? Und macht nicht jedes Kompliment mehr auch Hunger auf mehr? Muss man es ab einem bestimmten Appetit nicht ständig wiederholen, wenn man weiß: Gleich rappelt es wieder nur so vor lauter Zustimmungen zu mir selbst. Es ist doch klar, dass das viele Menschen latent süchtig macht. Denn wer bekommt denn schon genug für sich selbst an Lob, Kompliment oder als positive Zustimmung ab?

In Zeiten inflationärem, kulturübergreifendem, globalem Narzissmus ist der Narziss der Normalo schlechthin. Kaum jemand kommt deshalb auf den Gedanken, es könne sich um ernsthaft bedenklich pathologische Erscheinungen handeln, die sich langsam in die Menschheit schleichen. Das schließt sich deshalb aus, weil es ja zu viele sind. Ab einer gewissen Masse gilt die Masse selbst wieder als durchschnittlich und damit "normal"… wie immer sie sich verhält.

Die Norm fürs Gesunde oder Wünschenswerte ist im Laufe der Menschheitsgeschichte zur flexiblen Größe mutiert, die sich an Technik, Umweltbedingungen und kulturelle Veränderungen wie ein hochelastisches Gummiband brav anpasst bzw. von maßgeblichen Stellen angepasst wird, damit die Welt wieder in Ordnung ist. Und in diesem Sinne sind dann auch alle Selfies vollkommen normal. Auch wenn sie täglich gleich zehn Fotos von sich posten. Subjekt und Objekt fallen im Selfie zusammen. Und alle tun es. Vom Papst bis zu den Herren Putin oder Obama. Arm ausfahren, bis zur Maximalposition strecken, Lächeln, Grinsen, Faxen machen. Das mit der Zunge raus ist in einer bestimmten Altersgruppe besonders beliebt, die sich zudem verdächtig nah am Wahlalter bewegt. Das sind die harmlosen Fotos. Von den schlimmen Dingen, die die Kinder betreffen und ihren Missbrauch will ich hier erst gar nicht schreiben. Das braucht mehr Platz.

Verbindet man "me" mit dem "#Hashtag" sollen die Selfies bereits im dreistelligen Millionenbereich durch die Netze rauschen, wenn man den neueren Zahlen Glauben schenken darf. Sie werden bald überholt sein. Und das ist erst der zarte Anfang von dem, was uns droht. Bild gegen Text. Und wenn noch Text, dann bitte Kurztext statt ganze Absätze, gar Kapitel. Immer mehr Menschen haben Probleme damit, den Sinnzusammenhang längerer Texte für sich heraus zu kristallisieren. Menschen werden in Zeiten von Twitter und Facts, die fast nur noch mit Überschriften und wenigen Schlagworten agieren, immer ungeübter im Leseverständnis und einer eigenen Wertanalyse. 140 Zeichen müssen reichen. Das Hirn wird umprogrammiert. Und es reagiert bereits. Die Anzahl der Menschen, die lange Artikel neugierig, kritische und offen lesen, werden bald statistisch jener Anzahl ähneln, die den Elefanten in den Zoos nahe kommt. Die Welt der Bilder dominiert Text und Wort… und damit auch Hirn, Denken, Fühlen, Handeln und Entscheiden. Vielleicht eines Tages einmal so stark, dass gesetzlich verordnet werden muss, jedes Bild mit mindestens drei Worten zu flankieren, damit der neue globale Analphabetismus nicht zugunsten des flächendeckenden Voyerismus ausufert.

Phänomene im Hintergrund

Die Hintergründe für dieses Massenphänomen werden die Psychologen der Welt uns sicher bald auch wissenschaftlich erklären. Niemand jedoch sollte sich dann über das Ergebnis wundern. Denn der Durchschnitts-Selfie fordert Gleichberechtigung mit Angela Merkel und Paris Hilton, mit Vitali Klitschko und Rihanna. Jeder ist gleich wichtig in der Welt der Egalität, die sich zu einer dumpfen Gleichmacherei an den genau falschen Stellen des Lebens mausert. Demokratie und Urkommunismus auch hier? Ab und rein in die Vollen einer Bedeutungsschwere und höchstpersönlichen Wichtigkeit, die uns gerade noch gefehlt hat.

Aber was steckt dahinter? Ist es die Lust auf die Einzigartigkeit? Jeder Mensch IST einzigartig und unverwechselbar. Das braucht keine Demonstration übers globale Netz. Aber Einzigartigkeit ohne Bedeutung macht einfach weniger Spaß, so scheint es. Das wissen auch die Mächtigen, die sich ebenfalls ständig inszenieren (lassen), um sowohl ihrem Amt wie auch sich selbst stärkeres Gewicht zu verleihen.

Ist es das, was so viele wollen? Nämlich nicht nur unsere Individualität anpreisen, sondern möglichst doch auch immer bekannter werden? Was nützt der ganze schöne Individualismus, wenn sich kein Mensch dafür interessiert? Das Besondere braucht seine Bühne, seinen Altar, um aus der Masse hervorzustechen. Technisch ist all das mittlerweile leicht machbar. Vermutlich hätten es frühere Generationen genauso gehandhabt, wenn sie nur die Möglichkeit dazu gehabt hätten.

Nun ist ein weltweiter Resonanzboden für all das entstanden, der bereits merkwürdige Töne abgibt, für diejenigen, die psychologisch in die Zukunft zu horchen verstehen. Dieses Hintergrundrauschen einer Pseudo-Wichtigkeit klingt schrill. Nicht einmal Göttern, Kaisern und Königen wagten davon zu träumen, was für Lieschen Müller heute Realität ist: Die Welt kennt mich! Und zwar gleich vielfach und immer wieder neu!

Beginnt ein Bilderkrieg, der uns irgendwann einmal verrückt macht? Ein Krieg, der nicht mit heißen Waffen, sondern mit lachenden Gesichtern und manchmal auch grinsenden Fratzen ausgetragen wird? Ein eitler Narrenkrieg mit ernstem Hintergrund? Ein Krieg, der einmal lustig, fröhlich, harmlos ausgelassen begann und sich hochschaukelt zu einem Psychokick, einem Massenspleen, der die Menschen mehr verändert, als sie es ahnen? Beginnt etwas, dass seine Beginner lawinenartig überrollt? Leben wir nicht in Zeiten eines Wachstums, das vor nichts mehr halt macht, weil wir die Sache mit der Nachhaltigkeit einfach nicht in den Griff bekommen?

Gibt es eine Schuldfrage?

Alles nur Schwarzseherei? Was ist schon dabei! Das macht doch Spaß! Sei doch kein Spielverderber! Ist doch nur ein Jux! Nimm's doch um Himmelswillen nicht so ernst! Eine kleine spontane Aktion! Manchmal sogar richtig kreativ! Eine Darbietung und zur Schaustellung auf der Bühne der Welt, die kein einziges Brett dazu benötigt. Klick! Klick! Schaut keiner hin, ist man sich selbst sein Publikum, schreibt sein Drehbuch, singt, lacht, tanzt – denn die Welt der Selfies ist ein Wachstumsmarkt, der so lange in seiner Vielfalt von Ausdruck wachsen wird und wachsen muss, bis er in sich selbst verpufft, weil er die Sackgasse erkennt.

Alles drückt sich hier besonders eindrücklich aus. Die Bildermacht wirkt. Das liken auch. Jeder stempelt die Welt nun mit sich selbst, auf dass die Spuren niemals mehr verwehen. Jeder macht sich so vielfältig unsterblich auf der Festplatte des Seins, wie es seine Talente und Fantasie erlauben. Und je mehr man geliked wird, umso größer die Gefahr der Sucht.

So lange all das tatsächlich nur einem spontanen Spaß dient: Wunderbar! Wird es aber doch zur schleichenden Sucht, bekommt die Menschheit als Ganzes ein weiteres dickes Problem, weil Abhängige (von was auch immer) eine gesellschaftlich teure und unkalkulierbare Spezies Mensch darstellen – aber politisch unter Umständen leichter zu führen sind. Man muss ihnen nur ihr Spielzeug lassen oder neue dazu erfinden.

Ein Selfie zu machen oder zu sein kann ein kleiner fröhlicher Akt sein. Dauerselfies können in Zwangsneurosen enden. Aber dafür gibt es ja dann wieder Psychopharmaka. Das erfreut die weltweiten Pharmakonzerne mit ihren dicken Aktienpaketen, die schließlich auch sehen müssen, wo sie bleiben.

Die Selfies selbst sind nicht die Grund oder Ursache der Veränderung, falls es zu Auswüchsen kommt. Sie sind ja nur die Technik. Aber sie sind ein weiteres hervorragendes Werkzeug für einen weiteren globalen Abflug in die geistige Dekadenz, wenn man die Kontrolle verliert und der Faktor Geltungssucht voll in die Bresche schlägt. Verantwortlich ist das Individuum, das an sich selbst besoffen werden kann, wenn es sich selbst nicht ausreichend mit Eigenwert zu beleben weiß.

— 29. März 2014
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