Vorstellungen und Wirklichkeit

Missverständnisse an den Gestaden der eigenen Bewusstseinsküste. Von Christa Schyboll

Ich erzähle etwas. Im Zuhörer bildet sich ein Bild vom Gehörten. Das Geschehen und seine realen Bilder hat er nicht erlebt. Deshalb muss er sich nun ein eigenes Bild aufgrund meiner Worte machen. Dieses Bild ist eine Vorstellung.

Manchmal bleibt es nicht dabei. Je länger ich spreche und je detaillierter ich aushole, umso stärker verfestigt sich diese bildliche Vorstellung beim Zuhörer zu einer wachsenden Überzeugung. Er ist so lebendig dabei, dass er glaubt, meine Wirklichkeit zu kennen.

Ich selbst kenne sein inneres Bild jedoch nicht und unterliege einem ähnlichen Irrtum. Denn sein lebendiges Mitgehen suggeriert mir Verstehen. Beide irren wir uns. Aber das wissen wir noch nicht.

Einige Zeit später kommt das Gespräch zurück auf meine Erzählung. Der damalige Zuhörer sagt nun dieses oder jenes dazu. Er hat mittlerweile durch Gespräche mit anderen Menschen weitere Vorstellungen in sich aufleben lassen oder auch durch andere Zeugen oder Beobachter sein eigenes Bild weiter erhärtet. Was er nun sagt, verschlägt mir den Atem. Dabei ist daran keine Lüge zu finden, sondern eben jene Verzerrung, der wir unterliegen, wenn wir glauben, mit unseren Vorstellungen tatsächlich auch die Wahrheit und Wirklichkeit des anderen erfasst zu haben. Das Missverständnis hat sich im gemeinsamen Raum breit gemacht und füllt ihn mehr und mehr aus.

Ich kann mich plötzlich mit dem Geschehen nicht mehr identifizieren. Aber ich kann nicht sagen, wo genau der Bruch erfolgte. Die Tatsachen sind dabei unberührt. Da hat sich nichts faktisch Falsches eingeschlichen. Aber die Atmosphäre des Geschehens hinkt so krass, dass es sich nicht mehr um meine Wirklichkeit handelt. Wahre Fakten bei vollständiger atmosphärischer Schieflage. Ein Gebirge türmt sich auf. Die Kontinentaldrift verschiedener Erdteile, die sich aufeinander zu bewegen, erzeugt einen Tsunami. Er ist aber auf dem offenen Meer keineswegs klar erkennbar ist. Die Wellentäler sind noch zu lang, um die Gefahr zu erkennen. Doch die Küste des eigenen Bewusstseins befindet sich bereits in höchster Gefahr.

„Aber du hast doch gesagt! Du hast doch selbst gesagt, dass… !“ … „Ja. Aber es war anders gemeint, als du es aufgefasst hast. Ich habe dabei dies und das gefühlt und nicht dies und jenes, das du jetzt in den Vordergrund schiebst. Deine Vorstellung nahm eine völlig andere Richtung… eine, die nicht mehr meine Wirklichkeit berührt.“

Es passiert ständig. Aus Wahrheit wird Lüge, ohne dass jemand gelogen hat. Weder der Erzähler, noch der Zuhörer. Sie hatten - wie so oft - lediglich eine tragisch verschiedene Wellenlänge im Gespräch. Die Wellentäler unüberbrückbar, die Wucht der mentalen Zerstörung groß. Waren die Missverständnisse wirklich unvermeidlich? Lag es am Sprechenden oder am Hörenden? Wer suggerierte oder interpretierte falsch auf unschuldige Weise? Missverständnisse kosten Zeit und Nerven. Kommen sie oft vor. Ständig. Sie können sogar eine Freundschaft kosten, obschon niemand etwas Böses wollte. Oftmals kann man die Bruchstelle nicht mehr wirklich finden. Die Entladung war zu mächtig. Dann sind die verwüsteten Küsten des eigenen Bewusstseins aufzuräumen. Beide sind frustriert. Land und Meer. Sprecher und Zuhörer. Eigentlich mögen sie sich. Aber es ist ihnen nicht gegeben, immer nur friedlich miteinander zu sein. Selbst dann nicht, wenn sie es doch unbedingt wollen. Vielleicht aber auch genau deshalb nicht. Man verstehe nur ihre unterschiedliche Natur und was sie dem jeweils anderen zu sagen hat.

— 22. Juni 2013
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