Wahre Wahrheit

Von einer Sehnsucht, die wir oft nicht ertragen, schreibt Christa Schyboll

Fragt man Menschen, was ihnen in einer Beziehung besonders wichtig ist, werden sehr häufig die Worte "Ehrlichkeit“ und "Wahrheit“ genannt.

Keiner möchte gern belogen werden. Man will vertrauen können. Man will sich fest auf den anderen verlassen können, damit man ihn und die Beziehung zu ihm auch jederzeit einschätzen kann. Die Wahrheit nicht zu erfahren, belogen zu werden, kommt einer Entwürdigung gleich, die höchsten Zorn und Schmerz zugleich in uns entfachen kann. Manche Menschen schreiten im Falle der Unwahrheit sogar zur Tat, die zur harten Strafe oder bösen Rache werden kann.

Es sieht also danach aus, als streben wir alle nach der Wahrheit. Das ist ein Irrtum. Das gilt nur für ganz bestimmte Bereiche unseres Lebens. In Wirklichkeit lieben wir es an vielen Stellen außerordentlich, durchaus auch belogen zu werden. Natürlich nennen wir das nicht so, weil es ja peinlich wäre, dies zuzugeben. Und natürlich lügen wir selbst. Viel mehr, öfter und schneller als wir ahnen. Aber das sind dann natürlich keine Lügen oder Unwahrheiten, sondern das sind dann Über- oder Untertreibungen, kleine Schwindeleien, Ausreden, Ausflüchte oder sonstige Winkelzüge, die taktisch möglichst gut platziert werden, um eine gegebene Situation irgendwie zu nutzen.

Wir belügen uns in Sachen Wahrheit permanent. Gleichzeitig werden wir belogen. Oft nach Strich und Faden. Dabei ist die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit gleichzeitig oft hauchdünn. Beispielsweise wenn es um Schmeicheleien oder Komplimente geht. Wie sehr lieben wir da unter Umständen auch eine glatte Lüge, weil sie uns gerade herzlich gut tut und wir genau das nun hören wollen. Wahrheit hin oder her. Wie gern hören wir in Momenten der Schwäche von unseren Stärken, die wir aber noch gar nicht haben, sondern nur schon einmal eingeredet bekommen. Das nehmen wir dann aber nicht als Lüge hin, sondern als aufbauende Motivation, deren Wirklichkeit noch in der Zukunft liegt, aber bereits im Jetzt behauptet wird. Da sind wir recht nachlässig mit Lüge oder Wahrheit, weil uns eine kleine Lüge gerade gut zu passe kommt.

Oder was ist mit all den Wahrheiten, die wir verschweigen? Kommt das Verschweigen nicht schon fast einer Lüge gleich? Und warum verschweigen wir bestimmte Wahrheiten? Manchmal, weil wir einfach zu feige sind, sie auszusprechen und der Beziehung oder der inneren Stärke des anderen doch nicht so recht trauen. Oder aber wir nehmen Rücksicht auf einen emotionalen Schwächezustand den anderen, den wir mit einer unangenehmen Wahrheit in diesem Augenblick nicht noch negativ verstärken wollen.

Manchmal gibt es Gründe, die mit den Nerven, der verbleibenden Zeit oder anderen Dingen zusammenhängt, dass weder uns die Wahrheit gesagt wird oder wir sie eben auch nicht immer sagen können, obschon sie uns so drängt.

Es stimmt einfach nicht, dass wir immer die Wahrheit hören wollen. Es stimmt auch nicht, dass wir immer ehrlich sind. Wer das von sich behauptet, lügt. Es stimmt vermutlich aber, dass die meisten Menschen den Wunsch im Herzen tragen, selbst immer wahrhaftiger zu werden, weil die Wahrheit ein unendlich schönes Ziel ist, das befreit. Ehrlicherweise sollten wir aber zugeben, dass dies für die meisten Menschen eben auch erst nur ein Ziel ist und keineswegs schon die tagtäglich und umfassend gelebte Alltagswirklichkeit.

Mit der Wahrheit über die Lüge fängt die Wahrheit doch erst wirklich an zu keimen. Sich ihr immer bewusster zu stellen, ist der entscheidende Schritt, sie nach und nach auch zu erringen.

— 16. Juni 2012
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