Wahrheit

Eine scheinbar ganz leichte Sache?, fragt Christa Schyboll

Mehr und mehr Menschen fällt es schwer, Wahrheit und Wirklichkeit von der Lüge oder dem Schein zu trennen. Warum das so ist, ist so komplex wie die Tatsache, dass Wahrheit auch eine Frage von Interpretation und Bewusstsein ist, was der einzelne Mensch als wahr empfindet.

Bei der Lüge ist es scheinbar ein wenig einfacher. Ertappt man jemandem beim Lügen, so hat man häufig dafür einen entsprechenden Beweis oder zumindest eine zuverlässige Information, auf die man sich verlassen kann.

Wir alle sehnen uns danach, dass man mit uns wahrhaftig umgeht und uns nicht belügt. Aber stimmt das wirklich - oder ist dies schon wieder eine Art Selbstbetrug? Einerseits wollen wir die Wahrheit wissen - andererseits können wir sie oft dann nicht ertragen, wenn sie uns persönlich negativ betrifft. Manchmal sind wir vielleicht sogar dankbar, etwas nicht zu hören und in der Gnade des Nichtwissens zu verbleiben, damit erst gar nichts verdrängt werden muss.

Was Wahrheit ist, hat bis heute nicht einmal die Philosophie schlüssig herausgefunden. Wahrheit gilt immer noch als zentrales Problem philosophischer Betrachtungen. Kein Wunder also, dass wir Durchschnittsmenschen auch zu kämpfen haben, wenn sie uns begegnet - oder aber wenn sie behauptet wird und wir fühlen, dass dennoch irgendetwas daran nicht so ganz stimmt. Manchmal sind es nur Nuancen, die uns ein Gefühl vermitteln, dass eine behauptete Wahrheit sehr relativ sein kann, wenn man besondere Umstände des Einzelfalles berücksichtigt.

Trotz des Wunsches, dass uns selbst möglichst immer die Wahrheit gesagt wird, können aber auch wir umgekehrt immer wieder neu in Situationen geraten, wo wir uns dieser Wahrheit beim Nächsten nicht bedienen. Das müssen nicht einmal immer moralisch verwerfliche oder bösartige Gründe sein. Manchmal ist es schlicht eine Überforderung, spontan die Wahrheit zu sagen, wenn eine zwischenmenschliche Konstellation sehr kompliziert erscheint. Ein anderes mal ist es Mitleid oder Mitgefühl, das man die Wahrheit zurückhält. Eine Art Schonung, die durchaus ihre mitmenschlichen Gründe haben kann. Nicht jeder ist jederzeit jeder Wahrheit gewachsen. Ob uns das nun gefällt oder nicht.

Und nicht selten sind die, die lautstark moralisierende Ansprüche an den Nächsten in Punkto Wahrheit stellen oft Menschen, die im eigenen Verhalten durchaus aber viel verdrängen und mit massiven Geschossen aus dem Glashaus des eigenen Gewissens feuern.

Wahrheit ist ein Ziel. Vollständig wahrhaftig zu werden ein langer Weg für die meisten Menschen. Ein Weg, der keineswegs nur allein immer wieder von der Lüge blockiert wird, sondern der noch viel feinere Weggenossen hat, die mit Teilwahrheiten operieren und dann als Ausrede, Beschwichtigung, Schwindelei, Geflunker, Täuschung, Entstellung oder Verzerrung umschrieben werden können.

Wahrheit und Wahrhaftigkeit braucht Mut und Unbedingtheit. Wird beides jedoch exzessiv eingesetzt, kann es auch zu unnötigen Verletzungen kommen, die vielleicht in ihrer Wirkung noch desaströser und nachhaltiger sind, als die Teilwahrheit des Augenblicks.

Ist also ein Abwägen von Wahrheit bereits schon wieder unwahrhaftig? Das kann wohl nur jeder selbst in einer gegebenen Situation entscheiden und muss sein eigenes Handeln auch selbst verantworten.

Wahr ist: Die Sache mit der Wahrheit ist schwierig, obschon sie so einfach und klar erscheint.

— 02. April 2012
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