Meine Weihnachtsgeschichte: Leise rieselt … nicht nur Schnee

Eine Weihnachtsgeschichte von Christa Schyboll

In den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts herrschten zu Weihnachten ganz andere Stimmungen vor als heute. Alles war noch von einem feinen Zauber umgeben, der Kinder und Erwachsene zu dieser besonderen Zeit des Jahres umhüllte. Konsum war noch lange kein Thema. Und das hatte Folgen im seelischen Erleben vieler Menschen zur Weihnachtszeit.

6. Dezember 1960. Ich bin Angela und werde bald acht Jahre alt. Heute Morgen habe ich meinem Schokoladennikolaus noch vor dem Frühstück die Füße abgebissen, ungefähr bis zur Hälfte seines roten Mantels. Dann habe ich den Rest mit Klopapier ausgestopft und ihn mit Stanniolpapier vorsichtig wieder umwickelt, damit er unversehrt aussieht. Jetzt steckt er wieder in meinem Stiefel aus echtem Seehundfell. Zusammen mit einem Apfel und süßem Gebäck. Wenn meine Mutter sähe, dass er schon zur Hälfte aufgegessen ist, würde sie mit mir schimpfen. Sie wird es nicht bemerken. Meine Schwester Bernadette ist schon neun Jahre alt und wird spätestens heute Abend in den Kopf beißen und alles auf einmal aufessen. Ich kenne sie. Sie hat keine Angst vor der Schimpfe der Mutter und wird das Stanniolpapier nicht mit Klopapier auffüllen. Auch macht es ihr überhaupt nichts aus, mit dem Kopf zu beginnen. Ich kann Bernadette nicht leiden. Sie ist stark, frech und gut in der Schule. So möchte ich auch sein. Wenn sie mich ärgert – und sie ärgert mich dauernd – ziehe ich immer den Kürzeren.

Ich habe noch zwei weitere Schwestern. Marianne wird bald sechs Jahre alt und Susanna ist zwei. Susanna interessiert mich nicht. Ich gehe ihr aus dem Weg und mag nicht auf sie aufpassen. Marianne ist ruhig und stört mich nicht. Sie sammelt Schokoladennikoläuse seit ihrem vierten Geburtstag und isst sie nicht auf. Ich verstehe das nicht. Meine Mutter freut sich über die Sammlung auf dem Regal und hofft auf viele. In heißen Sommermonaten stellt sie die beiden Nikoläuse achtsam in den Keller für eine kurze Zeit. Schon oft stand ich im Laufe des Jahres davor und wollte sie aufessen. Aber dann hätte ich Prügel bekommen. Davor habe ich Angst. Die Nikoläuse sind mir zu gefährlich. Dann stöbere ich lieber in unseren Vorratsschränken nach Süßem.

Unsere Großeltern wohnen nebenan. Sie haben auch Vorratsschränke. Meine Großmutter liebt Leckereien. Dort treibe ich mich gerne herum und finde dies und das. Wenn ich heimlich etwas davon stehle, esse ich es hastig auf und habe ein sehr, sehr schlechtes Gewissen. Ich weiß ja, dass das eine Sünde ist. Für jede Sünde werde ich schwer büßen. Aber ich muss ab und zu sündigen. Ich kann nicht anders. Vor den Folgen habe ich noch mehr Angst als vor den gelegentlichen Backpfeifen.

Herr Schmieder ist unser Herr Pastor. Er erklärt uns in jedem Katechismusunterricht genau auf, was wir zu erwarten haben, wenn wir sündigen. Ich werde in das Fegefeuer kommen. Aufgrund der Häufigkeit meines Stehlens rechne ich mit mehreren Jahren. Bei Todsünden kommt man in die Hölle und bleibt dort. Ich werde nie eine Todsünde begehen. Darauf werde ich achten. Das Fegefeuer, das Brennen und die Hitze dort, die vielen Schreie lassen mich oft nicht einschlafen. Vielleicht hilft es ja, wenn ich viel Gutes tu. Eine Brennkammer mit weniger Hitze und leiseren Klagetönen sind meine Hoffnung. Darum bete ich Abend für Abend.

Das Aufessen eines halben Schokoladennikolaus vor dem Frühstück gleich am Nikolaustag ist eine kleine Sünde. Herr Schmieder hat dies zwar niemals ausdrücklich erwähnt, aber ich spüre das genau. Sonst wäre ich ja nicht so vorsichtig und ängstlich und würde ihn nicht heimlich ausstopfen müssen. Es wäre wohl keine Sünde, wenn ich ihn am 8. oder 9. Dezember gegessen hätte. Aber nicht an seinem Heiligentag.

Heute Morgen war ich wieder um sieben Uhr in der Frühmesse. Seit fünf Monaten gehe ich dort zweimal die Woche vor der Schule hin. Meine Eltern freuen sich darüber und loben meine Frömmigkeit. Der neue Herr Kaplan Felten hält diese Messe. Und Hans-Willi ist zumeist der Messdiener. Jedenfalls an den Tagen, an denen ich gehe. Ich schaue immer auf den Dienstplan. Wenn ich in die Frühmesse gehe, weiß ich nie so genau, wenn ich lieber anschauen mag: Hans-Willi, Herrn Felten oder den leidenden Christus am Kreuz. So wandert mein Blick hin und her. Wenn Hans-Willi mich auch anschaut, schaue ich schnell in mein Gebetbuch und singe ganz laut. Ich mag es nicht, wenn er sieht, dass ich ihn anschaue.

Ich verdiene im Monat 4,80 DM Taschengeld. Dafür trage ich die Stadt Gottes in 48 Familien hinein. Es ist meine Lieblingszeitung, die schöne Bilder aus Afrika zeigt. In Lambarene arbeitet Albert Schweitzer. Wir sprechen gerade in der Schule über ihn und ich glaube, ich liebe ihn. Noch mehr als Hans-Willi. Mein Berufswunsch ist beschlossen, seitdem ich viel über Lambarene gelesen habe. Ich werde Missionsschwester in Afrika bei Albert Schweitzer. Etwa Schöneres kann ich mir nicht vorstellen. Wenn ich eine gute Schwester werde, kann ich mein großes Sündenkonto für das Stehlen von Süßigkeiten vielleicht ein wenig abarbeiten.

Gestern war ein besonderer Tag. Am Mittag brachte ich meinem Großvater das Kesselchen mit Kassler, Püree und Sauerkraut in die Zementfabrik. Ich besuche ihn gern dort. Es staubt so schön und ich liebe den Staub. Wenn ich verdreckst vom Großvater zurückkomme, bekomme ich Schelte. Im Sommer gehe ich vorher noch einmal mit den Schuhen durch den Bach, damit der Zementstaub nicht so offensichtlich ist. Mein Großvater mag mich sehr, obschon ich soviel Angst habe. Bernadette mag er weniger. Sie ist wie er: frech. Die Tanten sagen, dass sie ihm sogar ein wenig ähnelt. Mein Großvater, hörte ich einmal meine Großtanten sagen, sei der unverschämteste und frechste Mann der Stadt. Ich war stolz auf ihn.

Am Nachmittag trug ich noch die restlichen Heftchen aus. Manchmal bekomme ich um die Weihnachtszeit einen Zusatzgroschen. Dann mache ich einen besonders freundlichen Knicks und bedanke mich sehr. Aber ich mache den Knicks auch, wenn ich ein paar Spekulatius bekomme. Zu Ostern ist auch schon einmal Knickszeit. Sonst aber nicht. Frau Rosenholz streicht mir immer über den Kopf. Ich mag das nicht, aber ich halte still und lächle. Wenn ich bei Wielands vorbeikomme, gruselt es mich. Wielands Sohn Johann ist verrückt. So sagen wir Kinder das. Sagen wir es laut, bekommen wir eine Ohrfeige. Warum, wissen wir nicht. Dabei macht er wirklich ganz komische Laute. Wie ein Tier. Angeblich soll er harmlos sein. Mir machen seine komischen Laute Angst und ich muss an die Laute im Fegefeuer denken, das einmal auf mich warten wird. So ähnlich stell ich mir das vor.

Es freute uns Kinder alle, dass es zum Nikolausabend frostig war und Schnee fiel. In unserer Straße liefen rechts und links der ungepflasterten Bürgersteige große Pfützen bis zum Hauptkanal in der Rheinstraße. Darin waren auch Küchenabfälle und bildeten schöne Muster im Eis. Im Sommer stanken die Pfützen entsetzlich. Im Winter waren sie uns sehr willkommen. Wir hatten wunderbar lange Rutschbahnen. Nach dem abendlichen Melken freuten wir uns darauf, dass wir zum Bauer durften. Normalerweise mussten wir alle bei Einbruch der Dunkelheit zuhause sein. Der Gang zum Bauern um frische Milch war die Ausnahme. Abend für Abend zankten wir uns darum, wer die Milch holen durfte. Am Ende durften dann Bernadette und ich oft gemeinsam gehen. An diesem Abend war meine freche große Schwester ruhiger wie sonst. Wir rutschten zwar mit der leeren Milchkanne aber hielten auch vorsichtig Ausschau, ob wir denn schon den Heiligen Nikolaus mit seinem bösen Knecht Ruprecht sähen. Den Knecht nannten wir alle Hans Muff. Sein Erscheinen war der Höhepunkt des jährlichen Schreckens aller Kinder. Sein Gesicht war schwarz, seine Kleidung war schwarz und seine Hörner waren blutrot. Er kam aus der Hölle.

Der Heilige Nikolaus sah aus wie ein Bischof. Er trug jährlich ein mit silbernen Fäden durchwirktes rotes Gewand, einen großen Hut und einen weißen Bart. Dazu hat er einen Krummstab aus reinem Silber und ein goldenes Buch. Er hat gütige Augen und kommt jährlich in jedes Haus, wo Kinder wohnen. Der teuflische Knecht trägt den Sack mit den Süßigkeiten auf dem Buckel und rostige Eisenketten, mit denen er fürchterlich rasselt. Seine Rute aus Reisig ist lang und schwarz. Alle Kinder, die böse waren, werden damit verhauen. In manchen Jahren war ein schöner Engel dabei, der die beiden begleitete. Er war so schön mit seinen großen goldenen Flügeln, dass mir immer ganz warm ums Herz wurde, wenn ich ihn sah. Ich möchte so gerne so ein wunderschöner ein Engel sein, wenn ich tot bin. Doch meine Sünden sind zu groß.

Kurz vor der Querstraße zum Bauer Höhn blieb Bernadette plötzlich stehen und machte „psst!!“. Sie deutete mit dem Finger auf Mülligens Haus und hielt den Atem an. Dort standen die drei Wesen aus dem Himmel und ließen feine Glöckchen erklingen. Sofort drückten wir uns an die Hauswand, damit uns der Knecht nicht sieht. Mülligens Haus war nur zehn Häuser von unserem entfernt. Wir mussten uns beeilen, sie würden bald bei uns sein. Neben dem Bimbeln der Glöckchen war auch das Rasseln der Eisenkette zu hören, als sie das Haus betraten. Peter Mülligen war neun Jahre und seine Schwester Gabriele sieben. Peter tat mir leid. Er würde sicher verhauen werden. Ich weiß, dass er die Hühner scheucht. Nach seinem Tod wird er mit mir im Fegefeuer sein. Vorher jedoch wird er die Rute kriegen.

Atemlos rannten wir zum Bauern und streichelten Jonas, den Hofhund, heute nicht. Die Zeit war zu knapp, unsere Aufregung zu groß. Ich bezahlte die Milch und Bernadette nahm die volle Kanne. Um schneller wieder zuhause zu sein, nahmen wir Anlauf und rutschten auf den spiegelglatten Pfützen zurück. Keinesfalls wollten wir um diese Zeit noch draußen erwischt werden und den Dreien im Dunkeln begegnen. Kurz vor unserem Haus knallte Bernadette mit der vollen Milchkanne auf einer Pfütze zu Boden. Die Blechkanne schepperte, sie schrie kurz auf und vergoss die Milch. Wir trauten uns nicht mehr nach Hause – jedoch auch nicht zurück zum Bauern, ohne Geld. Auch trauten wir uns nicht noch einmal an Mülligens Haus vorbei. Jetzt hatte auch Bernadette einmal Angst. Nicht immer nur ich. Ihr fiel sofort eine Notlüge ein. Am Nikolausabend aber zu lügen, wo der Heilige mit seinem Engel in unmittelbarer Nähe war, war mir viel zu gefährlich. Mein Sündenkonto war groß und meine Phantasie vor dem Fegefeuer mächtig.

Meine Mutter glaubte die Notlüge nicht, dass die Milch ausgegangen sei. Sie sah in meine niedergeschlagenen Augen und sah die kleinen blutigen Schrunden an Bernadettes Hand. Dann befragte sie Bernadette noch einmal um die Milch, die sie dringend für Marianne und Susanne brauchte. Bernadette wiederholte die Lüge und ich blieb stumm. Sie musste in den Keller. In dieses dunkle, feuchte Gewölbe werden wir ab und an eingesperrt, wenn wir lügen. Ich war in diesem Jahr schon dreimal drin. Es ist gruselig und kalt dort. Manchmal stellt unser Großvater dort Fallen für Ratten und Mäuse auf. Wenn wir eingesperrt werden, dann sitzen wir immer auf der höchsten Treppenstufe, direkt an der Ausgangstür. Tiefer würden wir uns nie trauen. Nicht allein und im Dunkeln. Erst recht nicht im Winter und an Nikolausabend. Bernadette pochte und schrie und ich weinte mir die Seele aus dem Leib, weil ich wusste, wie schlimm der Keller ist. Da ließ Mutter sie nach wenigen Minuten wieder hinaus.

Susanna und Marianne bekamen Tee statt Kakao und quengelten. Bernadette und ich waren total verheult. Die Großmutter versuchte uns zu beruhigen und Mutter hatte mit Vater Streit, weil alles so unruhig war. Dann fing der Großvater an zu singen. Da ging es uns allen besser. Wir sangen die Weihnachtslieder und Susanne brabbelte mit. Sie konnte ja noch gar nicht richtig singen.

Wir sangen so lange, so laut und leidenschaftlich all die schönen Lieder, bis es bimmelte und rasselte. Der Heilige Mann mit Engel und Knecht waren vor unserer Tür und begehrten Einlass. Meine Mutter hatte ein schönes Kleid an und mein Vater hatte sich eine Krawatte umgebunden. Die Großmutter hatte einen Glühweinfleck auf ihrer weißen Bluse.

Mir blieb das Herz stehen als der Heilige Mann mit dem wunderschönen Engel das kleine Wohnzimmer betrat. Bernadette stand sofort auf und sagte ein langes schönes Gedicht auf. Wir hatten es zwei Wochen lang gemeinsam geübt. Ich bewunderte sie für ihren Mut, einfach dazustehen und vor dem Heiligen Mann zu sprechen. Er war so groß, so prachtvoll. Dennoch drückte ich mich in die Kissen und wollte, dass er mich nicht sieht. Doch er sah uns alle und kannte uns auch mit Namen. Dann nahm er das Goldene Buch, wo alle guten und bösen Taten des Jahres genau verzeichnet sind und las vor. Zunächst war Bernadette dran. Sie musste hervortreten und hörte sich an, was der Engel dem Heiligen Mann aufgezeichnet hatte. Als ich hörte, welche Sünden Bernadette im vergangen Jahr begangen hatte, sorgte ich mich zutiefst. Sie würde in eine noch heißere Brennkammer des Fegefeuers kommen als ich. Fast unschuldig kam ich mir dagegen vor. Doch dann las der Heilige Mann auch noch ein paar gute Sachen vor, die alle der Wahrheit entsprachen. Besonders die guten Noten wurden lobend erwähnt. Aber die böse Seite überwog bei meiner frechen Schwester. Und so bat denn der Heilige Mann den schrecklichen Gehilfen mit den blutroten Hörnern und dem höllisch schwarzen Gesicht in die gute Stube. Als er erschien, kreischten Susanne, Marianne und ich gleichzeitig auf. Marianne schrie so aus Leibeskräften bei seinem Anblick, dass mein Großvater sie nicht mehr bändigen konnte. Ihr Schreien übertönte das Rasseln der Eisenkette und der Knecht Ruprecht bekam nun seinerseits große Angst vor soviel entsetzt schreienden kleinen Mädchen.. Sofort zog er sich zurück und der Heilige Mann hob die Hand. Der Engel schaute unsicher in den Raum und Mutter wusste nicht, wie sie Marianne zur Ruhe bringen konnte.

Bernadette durfte sich wieder setzen und Mutter musste mit Marianne den Raum verlassen, da der Heilige Mann mit seinen ruhigen Worten vom Geschrei übertönt wurde. Mein erster Gedanke war, dass Marianne im Flur der höllischen Gestalt ein zweites Mal begegnen müsse und ich hatte erstmalig Todesangst um Mutter und Marianne. Das Geschrei hatte ihm offensichtlich auch Angst gemacht und er hatte sich nach draußen in den Schnee verzogen. St. Nikolaus sprach dann zu mir. Er blätterte im Buch und las nur wenige kleine Sünden vor. Dabei nahm er mir das Versprechen ab, mich bis zum nächsten Nikolausfest zu bessern, damit ich niemals die Rute seines Knechtes spüren müsse. Mein Herz war ohne Atemkraft und so konnte ich nur stumm nicken. Danach verteilte er vier mit Süßem gefüllte Stiefel und der Großvater hob das Nikolauslied zum Abschied an.

In der Nacht kuschelte sich Bernadette eng an mich. Wir beteten noch lange um unsere Sünden und darum, niemals mal mehr den Knecht sehen zu müssen. In der Nacht schrie Bernadette zweimal laut auf und Mutter brachte uns Tee und küsste uns.

— 14. November 2009
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