O du fröhliche...

Über Familien-Folter unterm Weihnachtsbaum, schreibt mit satirischem Augenzwinkern Christa Schyboll

»Hallo, ist dort die Notfallzentrale des psychiatrischen Dienstes? Unsere Mutter dreht gerade durch. Dabei hat ihr niemand etwas getan. Wir verstehen das einfach nicht. Sie heult und heult und heult. Wir vermuten einen Nervenzusammenbruch. Tee mag sie auch keinen. Und wenn Papa sie trösten will, dann haut sie um sich. Dabei haben wir heute doch Heiliger Abend.«

»Was ist denn passiert?«

»Nichts, gar nichts! Alles wie immer: Maria und ich haben uns schön geschminkt und einige Kleider anprobiert. Meine Mutter hat noch schnell den Keller geputzt. Dann fuhr Finn die ersten Geschenke einkaufen, weil er noch keines hatte. Papa hat den Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer gestellt. Und Mutter musste ihn doch nur noch schmücken, die Gans fertig machen, den Rotkohl, die Knödel, die letzten Geschenke einpacken und sich dann selbst parat machen. Also gar nichts ist passiert. Alles wie immer!« »Und könnte Ihre Mutter damit nicht ein wenig überfordert gewesen sein?«

»Ach Quatsch. Das machen wir seit Jahrzehnten so. Großmutter ist Zeugin. Die saß die ganze Zeit in der Ecke und beobachtete alles. Tante Ludmilla ebenfalls. Ich kann sie ihnen ans Telefon rufen. Ludmilla, komm mal eben. Der Psychiater will dich sprechen.« »Guten Tag, Herr Doktor. Ich hab‘s ja schon immer gesagt. Änni hat einfach keine Struktur im Leben. Eine durch und durch psychedelische Person. Muss sie denn auch noch den Keller heute putzen? Das war doch Absicht. Sie wollte uns nur den schönen Heiligen Abend vermiesen. Ohne das Kellerputzen hätte sie doch alles andere locker allein geschafft. Hat sie sonst doch auch. Ich hab gesehen, wie mein Bruder Fritz, also Ännis Mann, sich so redlich drum bemühte, den Baum aufzustellen. Aber es gelang ihm halt nicht. Das lag nur am Baum. Und an Änni. Denn sie wollte auch noch, dass er ihn nach dem Aufstellen schmückt. Aber wann hätte sich Fritz denn zum Abendessen fertig machen sollen? Änni ist wirklich unmöglich. Nein, sie ist nicht krank. Sie will sich nur wichtig machen. Eine total überdrehte Frau.«

»Dann geben Sie mir doch mal Fritz ans Telefon.«

»Hier Fritz. Hallo. Meine Frau heult immer noch. Das nervt vielleicht! Wir sind alle fix und fertig. DIe Gans steht immer noch nicht auf dem Tisch. Nicht mal Lippenstift hat sie aufgetragen. Mein Gott. Ist doch Heiligabend. Sie sollten mal sehen, wie mies unser Baum geschmückt ist. Ganz schief hat sie ihn aufgestellt. So was gehört sich doch nicht! Nichts als Lametta, Lametta. Sonst hat sie nichts übergeworfen. Und da sollen wir uns auf Weihnachten freuen? Ich glaub, ich brauche dringend etwas für mich zur Beruhigung. Was können Sie mir aufschreiben?«

»Dann geben Sie mir doch nochmal ihre Tochter. --- Also die Sache ist nicht kompliziert. Sie sind, wie Millionen Familien auf der Welt, in die Folterkammer des Jahresendes eingetaucht. Fälle wie der Ihre laufen hier massenhaft auf. Es gibt eine leichte Erklärung: Die Sache ist und bleibt unlösbar. Sie gehört zum genetischen Erbe von Familienverbänden. Sie wird sich Jahr für Jahr wiederholen, wenn sie es schon immer so gemacht haben. Und weil sie alle es nicht anders wollen. Weil sie ihre familieneigene Folterkammer einfach nicht mal für ein Jahr leerstehen lassen können. Sie sind geradezu süchtig danach. Und natürlich, weil sie alle Egoisten sind. Und Änni eine Heilige, die Weihnachten einen besonderen Schuss weg hat, indem sie die Heilige spielt, die sie aber nicht sein will. Geben Sie mir einmal Änni ans Telefon.«

(Schluchzen, Schneuzen) »Ja?«

»Nehmen Sie sich Bargeld, Kreditkarte, Koffer und verreisen sie auf der Stelle! Sagen Sie niemandem, wohin sie fahren und wie lange sie wegbleiben. Lassen sie es zu, dass notfalls das Internationale Rote Kreuz nach Ihnen fahndet! Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und ein gutes Gelingen des Unmöglichen, das endlich überfällig ist.«

— 22. Dezember 2022
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