Weihnachten – Wir lieben uns alle bis aufs Blut!

Krieg und Frieden in der nicht immer heiligen Familie – Beobachtungen von Christa Schyboll

Der erste Weihnachtstag ist Pflichttermin. Zwischen 20-25 Personen finden sich ein, die sich aufteilt auf vier Generationen… Das Jahrhundert ist noch nicht ganz voll, aber besonders viel fehlt nicht mehr.

Doch weit gefehlt, wenn man dabei alt-verknöchertes auf der einen Seite vermutet und lieblich-kindliches auf der anderen Seite. Richtiger ist vielmehr: Lebendige Dynamik spiegelt sich in jeder Szene – und das jedes Jahr neu und jedes Jahr anders. Nicht wenige Familien die dies so oder in ähnlicher Weise erleben. Der Großklan von Geschwistern, Nichten, Neffen, Eltern, Schwiegereltern sowie der Jungbrut trifft sich dort, wo mindestens räumlich noch ein ordentlicher Stehplatz zu ergattern ist. Oder es geht reihum, damit jeder einmal von den Vorbereitungen vorher zehren darf… auf dass er sich nicht daran verzehre.

Spannend ist es für jeden. Die menschliche Natur siegt allerorten und freut sich auf Neuigkeiten – am liebsten mit handfestem Familienklatsch… Oder besser noch die nicht anwesende Nachbarschaft, gemeinsame Freunde und Bekannte, weil die zumindest nicht vor Ort direkt bestimmten Gerüchten widersprechen können. So bleibt der Tratsch etwas spannender für mancheinen. Wer hat was mit wem warum und wann wieso? Warum hat er nicht aber sie doch und wenn ja, weshalb? Dazwischen dann die Ergebnisse der kürzlich stattgefundenen Bundestagswahl, die Prognosen für die Regierenden und gleich ähnliche Prognosen für die nächsten Schulnoten, die nächste anstehende Operation der Tante, das nächst anstehende Ehedesaster bei den Piepenbrinks. Man hat es schon immer kommen sehen!

Absolut zuverlässig ist damit zu rechnen, dass in den fünf bis sieben Familien- oder Paarkonstellationen selbstverständlich mal wieder die selbstinszenierten Dramen sich zu verselbständigen drohen und dritte und vierte Einmischer und Ratschläger noch ein bisschen zündeln. Natürlich gutgemeint geratschlagt. ….Peng!...

Ist man damit durch, geht es in zwei Richtungen weiter. Die einen driften mehr in die Oberflächlichkeit und das Seichte ab, widmen sich lieber den Kalorienbomben und einem netten Schwätzchen… die anderen ziehen in den Kampf… endlich!. Die Abrechnungen vom letzten Jahr sind noch nicht ganz geregelt. Dies und das ist noch offen und braucht quasi jetzt lebendige Zeitzeugen.

Wird es dabei laut, fängt Großvater an zu schreien, weil er mit zunehmender Lautstärke erst recht nichts mehr hört. Dann verzerrt sich alles für ihn und die Missverständnisse häufen sich an. Das geht keinesfalls, weil nämlich Groß- oder Urgroßvater grundsätzlich noch ein Wörtchen mitzureden hat. Also schreit er notgedrungen in den beginnenden Lärm. Da Großmutter aber ihrerseits das Geschrei ihres Göttergatten nicht ertragen kann, muss sie lautstark um Ruhe bitten. Bei all diesem Trubel werden nun auch spätestens die bis dahin mit Kerzenwachs rumkrümelnden Kleinen aufmerksam und schreien auch. Zumal sich der Wachs nicht richtig im Teppich verkleben lässt, was ein wenig frustriert. Irgendwie ist es aber auch lustig für die Kleinen, weil sie die Inhalte nicht verstehen, sondern nur mitbekommen, dass gerade mal wieder etwas sehr lebendig im Gange ist. Die Familie ist zusammen und liebt sich auf ihre ganz eigene, intime Art: schreiend, sich übertönend, in Oktaven, Moll oder Dur, Fistelstimme, Kreischen oder Bariton. All das ist temporär. Denn spätestens wenn die Kleinen nun auch rumschreien, werden die Seichten in ihrem Schwätzchen in der anderen Ecke des Wohnzimmers so sehr gestört, dass hier endlich mal ein Machtwort gesprochen werden muss.

„Immerhin ist Weihnachten! Wir sind nur einmal im Jahr zusammen! Da wird es doch auch mal ruhiger zu gehen können!“

Klar doch. Es ist ein schönes Fest. Alle mögen sich. Die Schreiereien gehören einfach mit zum Ritual. Sie sind so zuverlässig wie der gemeinsam gegessene Braten, die Plätzchen und der Wein… Das beliebteste Ritual des Jahres in der fast heiligen Großfamilie. Fast nie fehlt einer. Fehlt er doch, so immer mit dem dumpfen Gefühl, mal wieder eine spannende Sache verpasst zu haben.

— 16. November 2009
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