Allergische Reaktionen

Von Pollen und anderen Widerwärtigkeiten im Leben, schreibt Christa Schyboll

Die Nase ist rot, der Hals belegt, die Laune im Keller. Frühling. Die Sonne brennt, die Tulpen leuchten, der Ärger ist da. Frühling, wie jedes Jahr.

Moskau ängstigte sich bereits in diesem Jahr vor der Apokalypse, weil die Birkenpollen eine so ungeheure dichte gelbe Giganten-Wolke erzeugten, dass man mit dem Ende der Welt rechnete. Oder mit dem Einmarsch der Aliens.

Werden wir immer empfindlicher oder werden die Pollen immer aggressiver? Mittlerweile gibt es Millionen von Menschen, die über Wochen, manchmal gar Monate geplagt werden und sich teilweise tot krank fühlen. Fast fragt man sich, ob wir eine Allergie gegen die Natur bekommen oder ob die Natur eine Allergie gegen uns und unseren Verschmutzungswahn bekommt. Wehrt sie sich biochemisch, um uns zu überleben?

Aber die Allergien, die wir entwickeln, sind ja noch viel komplexer. Sie betreffen auch unser Gemüt, unsere Seele. Das alljährliche Pollendrama ist ja nur ein Mosaikstein aus unserer Wirklichkeit. Denn Allergien betreffen nicht nur Gifte, Stoffe, chemische Reaktionen, deren Interaktion untereinander kein Chemiker der Welt mehr aufdröseln kann. Unsere Allergien sind z.B. auch politischer oder religiöser Natur.

Die Piratenpartei ist ein vortreffliches Beispiel. Aus dem Stand neun Prozent im Bund (in der Voraussage), ohne je vorher politisch gearbeitet zu haben. Respekt! Schaut man nach den Gründen, so heißt der Hauptgrund schlichtweg: Allergie! Allergie gegen die herrschenden Parteien, die "abgestraft“ werden müssen, in dem man sich für den Newcomer entscheidet. Vorschussvertrauen. Vielleicht haben sie es wirklich verdient. Man wird sehen. Ein Versuch ist es wert. Aber dahinter steht eben eine andere Form von "Allergie“, die man auch Protest nennen kann. Es kommt aufs Gleiche heraus.

Allergie gegen religiöse Institutionen. Überall suchen Menschen nach Sinn. Viele auch nach etwas Höherem. Dennoch laufen sie den Kirchen weg. Grund: Allergie. Aber nicht nur im Frühling. Hintergrund: die Strukturen, die Art und Weise des Agierens, auch des Verschleierns und Verbietens natürlicher Bedürfnisse des Menschen (siehe z.B. Zölibat).

Es gibt eine Reihe von Allergien. Auch welche gegen Gesetze. Gegen ausufernde EU-Vorschriften, die uns verrückt machen, Versicherungspolicen, die uns zu Unmöglichkeiten auffordern oder Führerscheinentzugsvorschriften, die einem in Einzelfällen Fällen die Haare zu Berge stehen lassen. Aber legalisiert!

Die Allergieliste könnte auf viele gesellschaftliche Bereiche ausgedehnt werden. Steuerallergie, Allergie gegen verrückte Bildungsgesetze, Allergie auf Politikergeschwafel, wenn nichts Substantielles gesagt wird, sondern nur in hohlen Worten das Immergleiche herauskommt. Natürlich ohne sich festzulegen. Und wenn doch eine Festlegung, dann bitteschön kein gültige.

Wir werden immer allergischer. Kein Wunder, dass der menschliche Körper mitmacht. Würden wir vielleicht widerstandsfähiger, wenn wir all das weniger wichtig nähmen?

— 03. Mai 2012
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