Gefangen im Netz der Zeit

Die Lebenszeit als Chance oder Unglück. Von Christa Schyboll

Buddha sagte einst: "Die Zeit ist ein großer Lehrer. Das Unglück: Sie tötet ihre Schüler." Wann immer Menschen etwas Schönes erleben, Wertvolles erhalten oder erfahren beginnt der Schmerz des Abschieds schon bei der Ankunft.

Wir sind gefangen im Netz der Zeit. Zugleich sind wir verstrickt in unser Bemühen, das Schöne zu bewahren und das Unangenehme zu meiden. Dass beides nicht gelingt, lehrt uns das Leben selbst, dessen großer Meister die Zeit ist.

Innerhalb unserer Lebenszeit erfahren wir Phasen von Glück und Schmerz, Erfolg und Misserfolg, und sind ins Kreuz der Polarität unserer Erfahrungen gespannt. Immer wieder neu haben wir uns zu entscheiden und machen dabei auch Fehler. Die dann vergehende Zeit zwischen dem Schmerz und dem allmählichen Vergessen trägt die Züge der Barmherzigkeit in sich und entlastet uns. Dennoch, wann immer es sich um persönlich schwere Phasen handelt, scheint die Zeit zähflüssig zu werden. Es dauert und dauert, bis das persönliche Elend erst einmal wieder vorbei ist. Das Übergleiten in eine nächste Phase geschieht oft unmerklich. Erst dann, wenn wir uns besonders glücklich fühlen oder einen besonders heftigen Schmerz erfahren, wird uns oft erst bewusst, wie denn die derzeit aktuelle Zeitphase in ihrer Qualität für uns selbst zu bewerten oder zu ertragen ist. War sie bereits schon vorher schmerzlich, ohne dass wir es bemerkt haben? Haben wir bestimmte Probleme einfach zu lange verdrängt und wurden erst beim Hammerschmerz wach? Haben wir feine Signale anderer Menschen oder des eigenen Körpers überhört, weil wir zu sehr mit anderem beschäftigt waren? War es der Stress des modernen Menschen, der alles Mögliche, aber nur keine Zeit hat? Zeit heilt Wunden, Zeit lässt vergessen und uns auch verzeihen, wenn uns Unrecht angetan wurde. Im Bett der Zeit verändern wir uns ständig wie ein fließendes Gewässer und blicken mit einem gewissen Abstand dann auch oft staunend auf die eigene Veränderung.

Aber was ist mit der Nichtzeit? Was mit der Gegenwart und unserer eigenen Gegenwärtigkeit? Ist sie nicht der Hauptmotor für gesunde Geistesklarheit? Diese Nichtzeit ist vielen Menschen unbewusst, weil sie sie zumeist nicht realisieren, obschon sie vorhanden ist. Sie scheint eingebettet zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und doch steht sie außerhalb. Sie ist nicht zu greifen, aber dennoch zu erleben. In ihr stirbt nichts. Hier gibt es keinen Tod und keinen Raum, keinen Zerfall und keine Neugeburt. Hier ist Frieden und Stille, die kein Stillstand bedeutet, sondern geheimnisvolle Dynamik, aus dessen Kraftpunkt heraus von Menschen wahre Wunder geschaffen werden können. Hier gebärt der Augenblick die Idee, die Kreativität oder die Intuition.

Die sich selbst bewusst gemachte Gegenwart kommt beim modernen Menschen zumeist zu kurz. Er lebt nach Terminen und Verpflichtungen. Er macht Pläne, arrangiert, organisiert. Er lebt zumeist gedanklich in der Zukunft, wenn er in der Gegenwart wirkt und handelt. Manche, oft ältere Menschen, nehmen gern die Vergangenheit als Zeitfaktor, der sie emotional oder mental beschäftigt. Sie hängen Erinnerungen nach, überdenken Versäumtes oder knüpfen an vergangene Erfahrungen an. Sie leben weiter im Zeitkorsett. Was aber geschieht, wenn man in diese Nichtzeit eintaucht? Man wird still. Man lernt eine neue Wahrheit kennen, die über unser Zeit geprägtes Verstandesdenken weit hinaus geht. Wir beginnen zu fühlen. Ganz elementar. Wir fühlen zum Beispiel Hintergrundempfindungen, die wir vielleicht noch niemals bei uns selbst so fein beobachtet haben. Wir lassen Zustände auftauchen, die schon immer da waren und uns dennoch bisher unentdeckt blieben. Das kann beispielsweise das Gefühl eines leichten Unbehagens im eigenen Körper sein, dass so fein im Hintergrund unserer vielen Gedanken wirkt, dass wir es glatt übersehen haben. Dabei ist nicht die Rede vom kranken Körper oder einem, der kurzfristig überlastet wurde. Sondern vom Normalzustand des Körpers, der immer da ist, aber – weil er eben nicht schmerzt – genauso wenig wahrgenommen wird wie die normale Qualität der Luft. Auch über sie stolpern wir erst, wenn sie sich extrem verändert. Jetzt aber, in der bewussten Übung der Gegenwärtigkeit, bekommen wir einen völlig neuen Zustand zu unbeachteten Regionen unserer eigenen Gestalt. Und viele Menschen kommen ins Staunen, was sie da alles nun neu entdecken.

Darüber allein zu lesen, macht nicht viel Sinn. Man setze sich lieber hin und mache eine solche Übung. Wenn man erlebt, wie schwer es ist, ohne Gedanken an die Zukunft oder die Vergangenheit eine kleine Weile, vielleicht eine Viertelstunde, nichts als nur allein der eigenen Körperwahrnehmung zu widmen, bekommt ein Gefühl dafür, was Gegenwart bedeutet. Bewusste Gegenwart, die sich nicht in Träumereien verliert oder schönen Gedanken schwelgt, sondern einen Raum betritt, wo es nicht einmal einen Tod gibt. "Die Zeit ist ein großer Lehrer. Das Unglück: Sie tötet ihre Schüler." Buddha bringt es auf den Punkt: Wer in der Zeit bleibt, stirbt. Wer sich während seiner Lebenszeit bereits immer wieder einmal außerhalb des engen Zeitkorsetts bewegt, bewusst einen gesunden Pendelschlag zwischen Uhrzeit und Nichtzeit wagt, bekommt eine Ahnung davon, was mit einem ewigen Leben gemeint sein könnte.

— 18. Oktober 2013
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