Zeit

Gedanken über etwas, das wir nicht haben. Von Christa Schyboll

Keine Zeit zu haben, ist typisches Kennzeichen unserer Zeit. Damit hat sie uns selbst beim Kragen. Wir machen uns freiwillig zu ihrem Sklaven. Dabei geraten wir häufig aus unserer Mitte.

Wie abgeschossene Flugzeuge der Erde entgegen trudeln, so trudeln auch wir: Von Termin zu Termin. Und niemals reicht sie aus: Die Zeit! Etwas, das uns krank machen kann, weil wir uns ihm unterwerfen.

Zeit ist eine Hilfskonstruktion für unser Bewusstsein. In der Raumwelt bedeutet die Zeit die Dauer, die man für die Bewegung von A nach B braucht. Von der Vergangenheit in die Zukunft. Oder auch umgekehrt, wie es unsere Erinnerungen vermögen. Aber alles geschieht dennoch vom Gegenwartspunkt aus. Jede Betrachtung, jede Bewegung. Nur im Jetzt können wir das Wunder vollbringen, die Zeit außer Kraft zu setzen. Doch dieses Wunder bemerken wir in aller Regel nicht. Obschon wir es immer wieder praktizieren. Stattdessen überlassen wir uns den mächtig spielenden Kräften, die in uns Gedanken und Emotionen bewegen. Die uns Angst machen oder die uns die Liebe erleben lassen. Oder den wunderbaren Moment, den wir angesichts einer neuen Erkenntnis haben. Oder den Nichtmoment, wenn wir einen Schock erleben. Immer dann wird die Zeit außer Kraft gesetzt, obschon die Uhren weiter ticken und so tun, als wäre nichts weiter geschehen.

Die Qualität der empfundenen Zeit ist elementar an unser Befinden und unser Bewusstsein gebunden. Sie ist keine Sklavenhalterin und Treiberin. Wer uns treibt, sind wir selbst. Je blinder wir unseren Alltag und unser Tun gestalten, umso mehr werfen wir der Zeit vor, uns krankzumachen. Wir selbst sind die Täter.

Zeit hat man nicht. Zeit bekommt man nicht. Zeit gestaltet man selbst. Zeit ist die Knetmasse unserer Lebensspanne, die wir mit positiven und negativen Erlebnissen und Aspekten anfüllen. Dennoch können wir sie vertun. Wir können die Knetmasse verhärten und zerbröseln lassen. Wir können aber auch Kunstwerke plastizieren, die sich in unsere Seele eingraben. Vertun wir die Zeit, bauen wir sie nicht selten zu einer Hölle aus. Wir versuchen ihr zu entrinnen und haben dabei selbst den Schlüssel für den Ausgang in der Hand. Doch wie ihn benutzen, so lange wir die Zusammenhänge zwischen Zeit und Sein nicht persönlich durchdrungen haben?

Warum nicht also einen Himmel gestalten? Warum Zeit in seinem ständigen Fluss nicht dazu nutzen, aus dem bisherigen Stress ein zukünftig gesundes Tätigsein machen? Warum nicht viel mehr genießen, gerade trotz und wegen der vielen Pflichten? Zeit ist Medizin, wenn wir sie richtig dosieren. Doch um richtig dosieren zu können, müssen wir ihre Wirkung auf uns selbst verstehen. Zeit ist Heilung, wenn wir ihre Möglichkeiten schätzen, achten und nutzen. Zeit ist unser Freund, solange wir uns selbst nicht Feind sind.

— 18. Juni 2013
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