Seinem Denkmal

Heute haben wir grünen Donnerstag, da hab' ich kleiner Tempeldiener viel zu tun; alle Blumen, die das frühe Jahr uns gönnt, werden abgemäht, Schneeglöckchen, Krokus, Maßlieb und das ganze Feld voll Hyazinthen schmücken den weißen Altar, und dann bring' ich die Chorhemdchen und zwölf Kinder mit aufgelösten Haaren werden damit bekleidet; sie stellen die Apostel vor. Nachdem wir mit brennenden, blumengeschmückten Kerzen den Altar umwandelt haben, lassen wir uns im Halbkreis nieder, und die alte Äbtissin mit ihrem hohen Stab von Silber, umwallt vom Schleier und langem, schleppendem Chormantel, kniet vor uns, um uns die Füße zu waschen, eine Nonne hält das silberne Becken und gießt das Wasser ein, die andre reicht die Linnen zum Abtrocknen; indessen läutet es mit allen Glocken, die Orgel ertönt, zwei Nonnen spielen die Violine, eine den Baß, zwei blasen die Posaune, eine wirbelt auf den Pauken, alle übrigen stimmen mit hohen Tönen die Litanei an: »Sankt Petrus, wir grüßen dich – du bist der Fels, auf den die Kirche baut.« Dann geht es zum Paulus, und so die Reihe durch werden alle Apostel begrüßt, bis alle Füße gewaschen sind. – Nun siehst Du, das ist ein Tag, auf den wir uns schon ein Vierteljahr lang halb selig gefreut haben. Die ganze Kirche war voll Menschen, sie drängten sich um unsere Prozession und weinten Tränen der Rührung über die lachenden, unschuldigen Apostel.

Von nun an ist der Garten wieder offen, der den Winter über unzugänglich war; jedes läuft an sein Blumengärtchen, da hat der Rosmarin gut überwintert, die Nelkenpflänzchen werden unter dem dürren Laub hervorgescharrt, und so manches junge Keimchen meldet den vergeßnen vorjährigen Blumenflor. Erdbeeren werden verpflanzt und die blühenden Veilchen sorgfältig herausgehoben und in Scherben versetzt; ich trage sie an mein Bett und lege den Kopf dicht an sie heran, damit ich ihren Duft die ganze Nacht ein- und ausatme.

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O, was erzähle ich dies alles dem Mann, der fern ab von solchen Kindereien seinen Geist zu andern Sphären trägt! Warum Dir, dem ich schmeicheln, den ich locken will; Du sollst mir freundlich sein, Du sollst, Dir unbewußt, mich allmählich lieben, während ich so mit Dir plaudere; könnte ich Dir nun nichts anders sagen, was Dir wichtiger wär', was Dich bewegte, daß Du mich »geliebtes Kind« nenntest, mich ans Herz drücktest in süßer Regung über das, was Du vernimmst?

Ach ich weiß nichts Besseres, ich weiß keine schöneren Freuden als die jener ersten Frühlinge, keine innigere Sehnsucht als die nach dem Aufblühen meiner Blumenknospen, keinen heißeren Durst, als der mich befiel, wenn ich mitten in der schönen blühenden Natur stand, und alles voll üppigem Gedeihen um mich her. Nichts hat freundlicher und mitleidiger mich berührt als die Sonnenstrahlen des jungen Jahrs, und wenn Du eifersüchtig sein könntest, so wär' es nur auf diese Zeit, denn wahrlich, ich sehne mich wieder dahin.

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Eine Sonne geht uns auf, sie weckt den Geist wie den jungen Tag, mit ihrem Untergang geht er schlafen; wenn sie aufsteigt, erwacht ein Treiben im Herzen wie der Frühling, wenn sie hoch steht, glüht der Geist mächtig, er ragt über das Irdische hinaus und lernt aus Offenbarungen; wenn sie sich dem Abend neigt, da tritt die Besinnung ein, ihrem Untergang folgt die Erinnerung; wir besinnen uns in der Schattenruhe auf das Wogen der Seele im Lichtmeer, auf die Begeistrung in der Zeit der Glut, und mit diesen Träumen gehen wir schlafen. Manche Geister aber steigen so hoch, daß ihnen die Liebessonne nimmermehr untergeht, und der neue Tag schließt sich an den versinkenden an.

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Die einsame Zeit ist allein, was mir bleibt; wessen ich mich erinnere, das war in der Einsamkeit erlebt, und was ich erlebt habe, das hat mich einsam gemacht; die ganze weite Welt umspielt in allen Farben den einsamen Geist, sie spiegelt sich in ihm, aber sie durchdringt ihn nicht.

Geist ist in sich, und was er wahrnimmt, was er aufnimmt, das ist seine eigne Richtung, sein Vermögen; es ist seine höchste Offenbarung, daß er erfasse, was er vermag. Ich glaub', im Tode mag's ihm wohl offenbar werden, früher hat er nur ungläubige Anschauungen davon; hätte ich früher geglaubt, so hätte der Geist auch zu erreichen gestrebt, was er unmöglich wähnte, und hätte erlangt, wonach er sich sehnte, denn Sehnsucht ist ein heilig Merkmal der Wahrhaftigkeit ihres Ziels, sie ist Inspiration und macht den Geist kühn. Dem Geist soll nichts zu kühn sein, denn weil er alles vermag; er ist der Krieger, dem keine Waffe versagt, er ist der Reiche, dessen Fülle Unendliches spendet, er ist der Selige, dem alles Wollust ist; ja wohl, Geist ist die Gottheit! Die Brust saugt die Luft in sich und entläßt sie wieder, um sie wieder zu trinken, und das ist Leben. – Der Geist trinkt sehnend die Gottheit und haucht sie wieder aus, um sie abermals zu trinken, und das ist sein Leben; alles andre ist Zufall, ist Spur, Geschichte des Geistes, aber nicht sein Leben.

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Darum ist der Geist einsam, weil ihn nur ein einziges belebt, das ist die Liebe. Die Liebe ist das All. Der Geist ist einsam, weil die Liebe alles allein ist. Die Liebe ist nur für den, der ganz in ihr ist. Liebe und Geist schauen sich einander an, denn sie sind in sich allein und können nur sich sehen.

Ich war auch einsam damals in der Kindheit, die Sterne äugelten mich an, ich begriff sie, die Liebe spricht durch sie.

Die Natur ist die Sprache der Liebe, die Liebe spricht zur Kindheit durch die Natur. Der Geist ist Kind hier auf Erden, drum hat die Liebe die süße, selige, kindliche Natur als Sprache für den Geist geschaffen.

Wär' der Geist selbständig, vielleicht führte die Liebe eine andre Sprache. Die Natur lenkt und reicht dar, was der Geist bedarf; sie lehrt, sie erzählt, sie erfindet, sie tröstet, sie beschützt und vertritt seine Unmündigkeit, vielleicht wenn sie den Geist aus der Kindheit herausgeleitet hat, lenkt sie ihn nicht mehr, sie läßt ihn dann selbständig walten, vielleicht ist das jenseitige Leben der Frühling des Geistes, so wie dieses seine Kindheit ist. Denn wir sehnen uns ja nach dem Frühling, nach der Jugend bis zum letzten Augenblick, und dieses Erdenleben ist nur ein Vorbilden für das Jugendleben des Geistes, sie entläßt ihn aus der Kindheit, wie das Samenkorn den Keim entläßt ins Ätherleben.

Blühen ist Geist, es ist Schönheit, es ist Kunst, und sein Duftausströmen ist abermals Streben in ein höheres Element.

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Komm mit, Freund! Scheue nicht den feuchten Abendtau, ich bin ein Kind, und Du bist ein Kind, wir liegen gern unter freiem Himmel und sehen den gemächlichen Zug der Abendwolken, die im purpurnen Gewand dahin schwimmen. O komme! – Kein seligerer Traum, kein beglückenderes Ereignis als Ruhe! Stille Ruhe im Dasein; beglückt, daß es so ist, und kein Wähnen, es könne anders sein, oder es müsse anders kommen. Nein! Nicht im Paradies wird es schöner sein, als diese Ruhe ist, die keine Rechenschaft gibt, kein Überschauen des Genusses, weil jeder Augenblick ganz selig ist. Solche Minuten erleb' ich mit Dir, nur weil ich Dich denke an meiner Seite in jenen Kinderjahren; da sind wir eines Sinnes, was ich erlebe, spiegelt sich in Dir, und ich lerne es in Dir begreifen, und was erlebte ich, wenn ich's nicht in Dir anschaute? – In was empfindet sich der Geist, durch was besitzt er sich, als nur dadurch, daß er die Liebe hat? – Ich habe Dich, Freund! Du wandelst mit mir, Du ruhst an meiner Seite, meine Worte sind der Geist, den Deine Brust aushaucht.

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Alle sinnliche Natur wird Geist, aller Geist ist sinnliches Leben der Gottheit. – Augen, ihr seht! – Ihr trinkt Licht, Farben und Formen! – O Augen, ihr seid genährt durch göttliche Weisheit, aber alles tragt ihr der Liebe zu, ihr Augen; daß die Abendsonne ihre Glorie über euch spielen läßt, und der Wolkenhimmel eine heilige Farbenharmonie euch lehrt, in die alles einstimmt: die fernen Höhen, die grüne Saat, der silberne Fluß, der schwarze Wald, der Nebelduft, das gibt euch, ihr Augen, die Mutter Natur zu trinken, während der Geist den schönen Abend verlebt im Anschauen des Geliebten. O ihr Ohren, euch umtönt die weite Stille, in ihr erhebt sich das leise Heranbrausen des Windes, es naht sich ein zweites, es trägt euch Töne zu aus der Ferne, die Wellen schlagen seufzend ans Ufer, die Blätter lispeln, nichts regt sich in der Einsamkeit, was nicht sich euch vertraute, ihr Ohren. Ihr werdet getränkt durch das ganze Walten der Natur, während Ohr, Aug', Sprache und Genuß im Busen des Freundes tief versunken ist. Ach, paradiesisches Mahl, wo die Kost sich in Weisheit verwandelt, wo Weisheit Wollust ist und diese Offenbarung wird.

Diese Frucht! Duftend, reif, niedersinkend aus dem Äther! – Welcher Baum hat sie abgeschüttelt von den überreichen Ästen? Während wir, Wange an Wange gelehnt, ihrer und der Zeit vergessen. Diese Gedanken, sind sie nicht die Äpfel, die der Baum der Weisheit trägt, und die er Liebenden in den Schoß schüttelt, die in seinem Paradiese wohnen und in seinem Schatten ruhen. – Damals war die Liebe in der Kindesbrust, die ihre Gefühle wie der junge Keim seine Blüten dichtgefaltet und verschränkt umschloß. Damals war sie! – und ihrem Drängen dehnte sich der Busen, und öffneten sich ihre Blüten, zu entfalten.

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Ein Nönnchen wurde eingekleidet, eine andre haben wir begraben während den drei Jahren, als ich im Kloster war; dem einen hab' ich den Zypressenkranz auf den Sarg gelegt, sie war die Gärtnerin und hatte lange Jahre den Rosmarin gepflegt, den man ihr aufs Grab pflanzte; sie war achtzig Jahre alt, und der Tod berührte sie sanft, während sie Absenker von ihren Lieblingsnelken machte, da hockte sie am Boden und hielt die Pflanzen in der Hand, die sie eben einsetzen wollte; ich war der Vollstrecker ihres Testaments, denn ich nahm die Pflanzen aus der erstarrten Hand und setzte sie in die frisch aufgewühlte Erde, ich begoß sie mit dem letzten Krüglein Wasser, was sie am Madlenenbrünnchen geholt hatte, die gute Schwester Monika! Wie schön wuchsen diese Nelken! Dunkelrot waren sie und groß. – Da mich später der, der mich liebt und kennt, einer dunklen Nelke verglich, da dachte ich an die Blumen, die ich junges Kind aus der erstorbenen Hand des hohen Alters entnommen und eingepflanzt hatte, und ob es wohl so kommen werde, daß auch mich der Tod beim Pflanzen der Blumen überrasche; der Tod, der triumphierende Herold des Lebens, der Befreier von irdischer Schwere.

Aber jene andre Nonne, jung und schön, deren lange goldne Flechten ich auf goldnem Opferteller zum Altar trug: – ich hab' nicht geweint, da man die alte Gärtnerin zu Grabe trug, obschon sie meine Freundin gewesen war und mir manche Gartenkunst gelehrt hatte. Es kam mir so natürlich vor und so behaglich, daß ich nicht einmal darüber verwundert war; aber damals, als ich im Chorhemdchen mit einem Kranz von Rosen auf dem Kopf, mit brennender Kerze als Geleitengel, unter dem Geläute aller Glocken vor der in alle üppige Pracht gekleideten jugendlichen Braut Christi einherschritt; da wir an das Gitter kamen, vor welchem der Bischof stand, der ihr die Gelübde abnahm, und er fragte, ob sie sich Christo vermählen wolle, und man ihr auf ihr Bejahen die mit Perlen und Bändern durchflochtenen Haare abschnitt, welche ich auf einem goldenen Teller empfing, da fielen meine Tränen auf diese Haare, und da ich hin zum Altar trat, um sie dem Bischof zu überreichen, da schluchzte ich laut, und alles Volk weinte mit.

Die junge Braut legte sich an die Erde, es wurde ein Leichentuch über sie gebreitet, die Nonnen wallten von allen Seiten herbei, je zu zweien Blumenkörbe tragend. Ich streute die Blumen auf das Leichentuch, während ein Requiem gesungen wurde. Sie wurde als Tote eingesegnet und Gebete über sie gesprochen; das irdische Leben war beendet, ich hob als Auferstehungsengel die Totendecke auf; das himmlische Leben beginnt, die Nonnen umringen sie, in ihrer Mitte wird sie vom weltlichen Staat entkleidet, Ordenskleid, Mantel und Schleier werden ihr angelegt, worauf sie in die Hände des Bischofs die Gelübde des Gehorsams, der Keuschheit und der Armut ablegt. Ach, wie war ich beklommen, da der Bischof ihr das Kruzifix reichte, um es als ihren Bräutigam zu küssen. Ich wich nicht von ihrer Seite; am Abend, da die Nonne allein in ihrer Zelle saß, kniete ich noch vor ihr, mit meinem verwelkten Rosenkranz auf dem Kopf; sie war eine Französin, eine Gräfin d'Antelot. »Mon enfant«, fragte sie, »mon cher ange gardien, pourquoi as-tu pleuré ce matin lorsqu'on m'a coupé les cheveux?« Ich schwieg eine Weile still, aber dann fragte ich leise: »Madame, est-ce que Jésus Christ a aussi une barbe noire?«

Diese schöne Frau war mit vielen andern hohen Damen und Rittern, die Ordensbänder und Sterne hatten, aus Frankreich vertrieben waren, in unser Kloster gekommen; diese zogen alle weiter, sie allein blieb zurück, sie wandelte viel im Garten, sie hatte einen blitzenden Ring am Finger, den sie küßte, wenn sie in der dunklen Allee allein war. Da las sie ihre Briefe mit leiser Stimme, und mit einem feinen weißen Tuch trocknete sie die weinenden Augen. Ich belauschte sie, ich liebte sie und weinte heimlich mit. Einmal trat ein schöner Mann in glänzender Uniform mit ihr in den Garten. Sie sprachen zärtlich miteinander. Der Mann hatte einen schwarzen Bart, er war größer als sie, er hielt sie in seinen Armen und sah auf sie herab, und seine glänzenden Tränen blieben in seinem schwarzen Bart hängen; das sah ich, denn ich saß in der dunkeln Laube, an deren Eingang sie standen. Er seufzte tief und laut, er drückte sie ans Herz, und sie küßte die glänzenden Tränen im schwarzen Bart auf.

Noch oft wandelte die schöne Frau in diesen einsamen Alleen, noch oft sah ich sie, weinend unter dem Baum, wo er Abschied genommen hatte, und endlich nahm sie den Schleier.

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Koblenz.

Ich habe mehrere Tage nicht ins Buch geschrieben, wie hab' ich mich danach gesehnt! Im Wandern durch fremde Straßen hab' ich Deiner gedacht. Hier der Spiel- und Tummelplatz Deiner Jugendjahre, da üben der Ehrenbreitstein; er heißt wie die Basis Deines Ruhms, so muß der Würfel heißen, auf dem Dein Denkmal einst stehn wird.

Gestern fielen mir wunderliche Gedanken aus den Wolken, ich hätte sie gern aufgeschrieben, ich war nicht allein, ich mußte sie halt mit den wechselnden Wellen im Strom dahin ziehen lassen.

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Alles, was dem Wesen der Liebe nicht zusagt, ist Sünde, und alles, was Sünde ist, sagt dem Wesen der Liebe nicht zu. Die Liebe hat eine persönliche Gewalt, die ein Recht an uns übt; ich unterwerfe mich ihrer Rüge, sie und sie allein ist die Stimme meines Gewissens.

Welche Anregungen auch im Leben vorkommen, welche Wendungen auch ein Geschick nimmt, sie ist der Weg der Modulation, der alle fremde Tonarten harmonisch auflöst, sie gibt die Erkenntnis, den Takt einer wahrhaft sittlichen Größe. Sie ist strenge, und diese Strenge erregt leidenschaftlich für die Liebe, ich brenne vor Begierde zu tun, was ihr gemäß ist. Ich will gern jedes Gefühl, jede Regung an ihr abmessen.

Jetzt geh' ich schlafen; könnt' ich Dir beschreiben, wie wohl mir ist.

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Wenn heut' der Tag wäre, wo ich Dich wiedersehe! Heute! in wenig Sekunden trätest Du hier in meine vier Wände, in denen ich schon seit einem Sommer das Zauberhandwerk treibe, Dich zu besitzen; ja und manchen Augenblick warst Du mein, meine Liebe zog Dich heran. Ich sah in die Ferne, im Herzen sah ich nach Dir und erkannte Dich. Etwas sich aneignen, etwas besitzen, dazu gehört eine große Kraft; etwas besitzen, wenn auch nur Minuten lang, erzeugt Wunder; was Du besitzest im Geist, das erkennst Du, was Du erkennst, das nimmt Dich ein, was Dich einnimmt, das erschließt Dir eine neue Welt.

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Der Geist will Selbstherrscher sein! der eigne Besitz ist seine wahre Kraft; jede Wahrheit, jede Offenbarung ist ein Berühren des eigenen Geistes, durchdringst Du ihn, schmilzt Deine Seele in Deinen Geist: dann hast Du alles was Du vermagst, und jede Offenbarung und Dein Leben ist Dein fortwährendes Wissen, und Dein Wissen ist Dein Sein, Dein Erzeugen. Alle Erkenntnis ist Liebe, darum ist es so selig zu lieben, weil im Lieben der Besitz liegt der eignen göttlichen Natur.

Hast Du geliebt? es war eine Spur göttlicher Natur, Du hobst die Grenze Deines Seins auf und dehntest Dich aus im Besitz Deiner Liebe. Dieses Ausdehnen ist der Kreislauf Deiner geistigen Natur; was Du liebst, das ist ein Reich, in das Du geboren bist, daß Du vermagst in ihm zu leben. Ach es ist so groß, so unendlich das Reich der Liebe, und doch umschließt es das menschliche Herz.

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So wollen wir dann das Kloster verlassen, in dem kein Spiegel war, und in dem ich also während vier Jahren vergeblich die Bekanntschaft meiner Gesichtszüge, meiner Gestalt gesucht haben würde, doch ist es mir in dieser ganzen Zeit nie eingefallen daran zu denken, wie ich wohl aussähe; es war mir eine große Überraschung, wie ich im dreizehnten Jahre zum erstenmal mit zwei Schwestern, umarmt von der Großmutter, die ganze Gruppe im Spiegel erblickte. Ich erkannte alle, aber die eine nicht, mit feurigen Augen, glühenden Wangen, mit schwarzem, fein gekräuseltem Haar; ich kenne sie nicht, aber mein Herz schlägt ihr entgegen, ein solches Gesicht hab' ich schon im Traum geliebt, in diesem Blick liegt etwas, was mich zu Tränen bewegt, diesem Wesen muß ich nachgehen, ich muß ihr Treue und Glauben zusagen; wenn sie weint, will ich still trauern, wenn sie freudig ist, will ich ihr still dienen, ich winke ihr, – siehe, sie erhebt sich und kommt mir entgegen, wir lächeln uns an, und ich kann's nicht länger bezweifeln, daß ich mein Bild im Spiegel erblicke.

Ach ja, diese Prophezeiung ist mir wahr geworden, ich habe keinen andern Freund gehabt als mich selber, ich habe nicht um mich, aber oft mit mir geweint; ich habe gescherzt mit mir, und das war noch rührender, daß am Scherz auch kein andrer teilnahm, hätte mir damals einer gesagt, es sucht jeder in der Liebe nur sich, und es ist das höchste Glück sich in ihr finden, ich hätt' es nicht verstanden, doch ist in diesem kleinen Ereignis eine hohe Wahrheit verborgen, die gewiß nur wenige fassen: finde dich, sei dir selber treu, lerne dich verstehen, folge deiner Stimme, nur so kannst du das Höchste erreichen, du kannst nur dir treu sein in der Liebe, was du schön findest, das mußt du lieben, oder du bist dir untreu.

Schönheit erzeugt Begeistrung, aber Begeistrung für Schönheit ist die höchste Schönheit selbst. Sie spricht das erhöhte, verklärte Ideal des Geliebten durch sich selbst aus.

Gewiß, die Liebe erzieht eine höhere Welt aus der Sinnenwelt; der Geist wird durch die Sinne genährt, gepflegt und getragen, er wächst und steigt durch sie zur Selbstbegeistrung, zum Genie, denn Genie ist das überirdische selige Leben einer durch die sinnliche Natur erzeugten himmlischen Begeisterung.

Du erscheinst mir wie dies himmlische Erzeugnis meiner Sinnenwelt, wenn ich so vor Dir stehe und Dir ausspreche, wie ich Dich liebe, und doch, wenn ich so vor Dir stehe, dann fühl' ich wie Deine sinnliche Erscheinung mich verklärt und zur himmlischen Natur in mir wird.

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Jetzt bin ich dreizehn Jahr' alt, jetzt rückt die Zeit an, die aus dem Schlaf weckt, die jungen Keime haben Trieb und rücken aus ihrer braunen Hülle hervor ans Licht, und die Liebe des Kindes neigt sich den aufkeimenden Geschlechtern der Blumen; sein Herz glüht verschämt und innig ihren vielfarbigen duftenden Reizen entgegen und ahnet nicht, daß währenddem eine Keimwelt von tausendfältigen Geschlechtern der Sinne und des Geistes sich aus der Brust hervor, dem Leben, dem Licht entgegendrängt. Siehst Du wohl hier bestätigt, was ich sage: die Liebe zu der aufkeimenden Blütenwelt der sinnlichen Natur erregt die schlafenden Keime einer geistigen Blütenwelt; indem wir die sinnliche Schönheit gewahr werden, erzeugt sich in uns ein geistig Ebenbild, eine himmlische Verklärung dessen, was wir sinnlich lieben. So war meine erste Liebe, im Garten: in der Geißblattlaube war ich jeden Morgen mit der Sonne und drängte mich dem Aufbrechen ihrer rötlichen Knospen entgegen, und wie ich in die erschloßnen Kelche blickte, da liebte ich und betete die Sinnenwelt in den Blüten an, und ich mischte meine Tränen mit dem Honig in ihren Kelchen. Ja, glaub's, es war mir ein besonderer Reiz, die Träne, die unwillkürlich mir ins Auge gedrungen, da hinein zu betten, so wechselte die Lust mit der Wehmut. Die jungen Feigenblätter, wie sie zuerst so rein und dicht gefaltet aus dem Keim hervorsteigen und vor der Sonne sich ausbreiten: Ach Gott! Du! warum schmerzt die Schönheit der Natur? nicht wahr, weil die Liebe sich untüchtig fühlt, sie ganz zu umfassen, so ist die glücklichste Liebe von Wehmut durchdrungen, weil sie ihrer eignen Sehnsucht kein Genüge tun kann, so macht mich Deine Schönheit wehmütig, weil ich Dich nicht genug lieben kann. – O verlasse mich nicht, sei mir nur so weit willig gesinnt, wie der Tau den Blumen gesinnt ist; morgens weckt er sie und nährt sie, und abends reinigt er sie vom Staub und kühlt sie von der Hitze des Tages. So mache Du es auch, wecke und nähre meine Begeistrung in der Frühe, kühle meine Glut und reinige mich von Sünden am Abend.

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Hast Du mich lieb? – Ach! ein Herabneigen Deines Angesichts auf mich wie die wogenden Zweige der Birke, – wie schön wär' das! – oder auch, daß Du mich anhauchtest im Schlaf, wie der Nachtwind über die Fluren hinstreift; mehr nicht, mein Freund, verlang' ich von dir – daß der Atem des Geliebten Dich berührt, welche Seligkeit kannst du dieser gleichstellen? –

So hell und deutlich hab' ich damals nicht gefühlt, wie ich heut' in der Erinnerung fühle, ich war so unmündig wie die junge Saat, aber ich wurde vom Lichte genährt und dem Selbstbewußtsein entgegengeführt, wie jene, wenn sie durch die Ähre ihrer selbst gewiß wird; und heute bin ich reif, und streue die goldnen Fruchtkörner der Liebe zu Deinen Füßen aus, mehr nicht besagt mein Leben.

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Die Nachtigall war anders gegen mich gesinnt wie Du, sie stieg herab von Ast zu Ast und kam immer näher, sie hing sich an den äußersten Zweig, um mich zu sehen, ich wendete leise mich zu ihr, um sie nicht zu scheuchen, und siehe da! Aug' in Nachtigallenaug', wir blickten uns an und hielten's aus. Dazu trugen die Winde die Töne einer fernen Musik herüber, deren allumfassende Harmonie wie ein in sich abgeschlossenes Geisteruniversum erklang, wo jeder Geist alle Geister durchdringt, und alle jedem sich fügen; vollkommen schön war dies Ereignis, dies erste Annähern zweier gleich unbewußten, unschuldigen Naturen, die noch nicht erfahren hatten, daß aus Liebesdurst, aus Liebeslust das Herz im Busen stärker und stärker klopft. Gewiß, ich war erfreut und gerührt durch dies Annähern der Nachtigall, wie ich mir denke, daß Du allenfalls freundlich bewegt werden könntest durch meine Liebe, aber was hat die Nachtigall bewogen mir nachzugehen, warum kam sie herab vom hohen Baum und setzte sich mir so nah, daß ich sie mit der Hand hätte haschen können, warum sah sie mich an und zwar mir ins Aug'? – Das Aug' spricht mit uns, es antwortet auf den Blick, die Nachtigall wollte mit mir sprechen, sie hatte ein Gefühl, einen Gedanken mit mir auszutauschen. Gefühl ist der Keim des Gedankens, und wenn es so ist, welchen tiefen, gewaltigen Blick läßt uns hier die Natur in ihre Werkstatt tun; wie bereitet sie ihre Steigerungen vor, wie tief legt sie ihre Keime, wie weit ist es noch von der Nachtigall bis zu dem Bewußtsein zwischen zwei Liebenden, die ihre Inbrunst so deutlich im Lied der Nachtigall gesteigert empfinden, daß sie glauben müssen, ihre Melodien seien der wahre Ausdruck ihrer Empfindungen. –

Am andern Tag kam sie wieder, die Nachtigall – ich auch, mir ahnete, sie würde kommen, ich hatte die Gitarre mitgenommen, ich wollte ihr was vorspielen, an der Pappelwand war's, der wilden Rosenhecke gegenüber, die ihre langen schwankenden Zweige über die Mauer des Nachbargartens hereinstreckte und mit ihren Blüten beinah' bis wieder an den Boden reichte; da saß sie, streckte ihr Hälschen und sah mir zu, wie ich mit dem Sand spielte. Nachtigallen sind neugierig, sagen die Leute, bei uns ist's ein Sprichwort: »Du bist so neugierig wie eine Nachtigall«; aber warum ist sie denn neugierig auf den Menschen, der scheinbar gar keine Beziehung auf sie hat? – was wird einstens aus dieser Neugierde sich erzeugen? – O! nichts umsonst, alles braucht die Natur zu ihrem rastlosen Wirken, es will und muß weitergehen in ihren Erlösungen. Ich stieg auf eine hohe Pappel, deren Äste von unten auf zu einer bequemen Treppe rund um den Stamm gebildet waren; da oben in dem schlanken Wipfel band ich mich fest an die Zweige mit der Schnur, an der ich die Gitarre mir nachgezogen hatte, es war schwül, nun regten sich die Lüfte stärker und trieben ein Heer von Wolken über uns zusammen. – Die Rosenhecke wurde hochgehoben vom Wind und wieder niedergebeugt, aber der Vogel saß fest; je brausender der Sturm, je schmetternder ihr Gesang, die kleine Kehle strömte jubelnd ihr ganzes Leben in die aufgeregte Natur, der fallende Regen behinderte sie nicht, die brausenden Bäume, der Donner übertäubte und schreckte sie nicht, und ich auch auf meiner schlanken Pappel wogte im Sturmwind nieder auf die Rosenhecke, wenn sie sich hob, und streifte über die Saiten, um den Jubel der kleinen Sängerin durch den Takt zu mäßigen. Wie still war's nach dem Gewitter! welche heilige Ruhe folgte dieser Begeistrung im Sturm! mit ihr breitete die Dämmerung sich über die weiten Gefilde, meine kleine Sängerin schwieg, sie war müde geworden. Ach, wenn der Genius aufleuchtet in uns und unsere gesamten Kräfte aufregt, daß sie ihm dienen, wenn der ganze Mensch nichts mehr ist, als nur dienend dem Gewaltigen, dem Höheren als er selbst, und die Ruhe folgt auf solche Anstrengung, wie mild ist es da, wie sind da alle Ansprüche, selbst etwas zu sein, aufgelöst in Hingebung an den Genius! So ist Natur, wenn sie ruht vom Tagewerk: sie schläft, und im Schlaf gibt es Gott den Seinen. So ist der Mensch, der unterworfen ist dem Genius der Kunst, dem das elektrische Feuer der Poesie die Adern durchströmt, den prophetische Gabe durchleuchtet, oder der wie Beethoven eine Sprache führt, die nicht auf Erden, sondern im Äther Muttersprache ist. Wenn solche ruhen von begeisterter Anstrengung, dann ist es so mild, so kühl, wie es heute nach dem Gewitter war in der ganzen Natur und mehr noch in der Brust der kleinen Nachtigall, denn sie schlief wahrscheinlich heute noch tiefer als alle andren Vögel, und um so kräftiger und um so inniger wird ihr der Genius, der es den Seinen im Schlaf gibt, vergolten haben, ich aber stieg nach eingeatmeter Abendstille von meinem Baum herab, und durchdrungen von den hohen Ereignissen des eben Erlebten, sah ich unwillkürlich die Menschheit über die Achsel an.

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Alles ändert sich, die Menschen denken anders, wenn sie älter sind, als in der Jugend. Ach! – was werde ich denn einstens denken, wenn mich dies irdische Leben so lange bewahrt, bis ich älter in ihm werde! vielleicht gehe ich, statt zu dem Freund, dann in die Kirche, vielleicht bete ich dann, statt zu lieben! Ach, wie werd ich's dem Lieben gleichtun im Beten? – Hab' ich je Andacht empfunden, so war's an Deiner Brust, Freund! – Tempelduft, den Deine Lippen hauchen, Geist Gottes, den Deine Augen predigen, es strömt von Dir aus eine begeisternde Macht, Deine Gewande, Dein Antlitz, Dein Geist, alles strömt eine Heiligung aus. O Du! – Deine Knie fest an meine Brust drückend, frag' ich nicht mehr, was das für eine Seligkeit sein möge, die im Himmel dem Frommen bereitet ist. – Gott von Angesicht zu Angesicht schauen? – Wie oft hab' ich mit geschloßnen Augen Deiner Nähe mich gefreut. Vielleicht dringt Gott durch den Geliebten in unser Herz, – ja Geliebter! was haben wir im Herzen als nur Gott? – Und wenn wir ihn da nicht empfänden, wie und wo sollten wir seine Spur suchen? –

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Was fasele ich vom Frühling, was spreche ich von heiteren Tagen, von Genuß und Glück? – Du! – das Bewußtsein von Dir verzehrt mir jede Regung; ich kann nicht lächeln zum Scherz, ich kann nicht mich freuen, ich kann nicht hoffen mit den andern. Daß ich Dich kenne, daß ich Dich weiß, macht meine Sinne so still.

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O heute ist ein wunderbarer Tag! – heute leide ich Schmerzen, so schwer ist die Seele! Du bist nah, ich weiß es, gar nicht fern ist der Weg zu Dir, aber mich trennt der kleine Raum wie die Unendlichkeit. Der Moment der Sehnsucht ist es, der gefühlt und befriedigt sein will, und wenn der Geliebte den nicht ahnt, wenn er die Liebe versäumt, was kann mich ihm nah bringen! Ach, schauerlicher Tag, der heute in Erwartung und Sehnsucht verging!

Wen mache ich zum Vertrauten? wer fühlt menschlich mit mir? – wem klag' ich über Dich? – wer ist mein Freund? – wer darf's wagen auf diesen Stufen hinanzusteigen, auf denen ich mich aller menschlichen Berührung enthoben habe? – wer darf die Hand mir an die Stirn legen und sagen: »Der Friede sei mit dir?« –

Dir klag' ich's, den ich suche, Dir ruf' ich's zu über die Klüfte, denk' nur, mit heißem Ruderschlag überfliege ich die Zeit, das Leben; ich jage sie hinter mich, die Minuten der Trennung, und nun, ihr Inseln der Seligen, findet mein Anker keinen Grund. Wildes Gestade! – feindseliger Strand! – Ihr lasset mich nicht landen, nicht ahnen des Freundes Brust, der kennt die Geheimnisse und den göttlichen Ursprung und meines Lebens Ziel. Er hat, daß ich ihn schauen lerne, des Lichtes unbefleckten Glanz mir im Geiste geweckt, er hat – begleitend in raschen Liedern die Genüsse, die Leiden der Liebe – mich gelehrt, zwischen beiden voranschreitend: den Schicksalsschwestern, mit leuchtender Fackel des Eros zu bestrahlen den Weg.

*

Heute ist ein andrer Tag, die böse Furcht ist gestillt, es tobt nicht, es braust nicht mehr im Herzen, die Klage unterbricht nicht mehr der Liebe glanzerfüllte Stille. – Ach, heute ist die Sonne nicht hinab, ihre letzten Strahlen breiten sich unter Deine Schritte; sie wandelt – die Sonne, sie steht nicht still, sie führt Dich ein bei mir, wo Dämmerung Dir winkt und der von Violen geflochtene Kranz. O Liebster! – dann steh' ich schweigend vor Dir, und der Duft der Blumen wird für mich sprechen bei Dir.

*

Ich bin freudig wie der Delphin, der auf weitruhendem Meeresplan ferne Flöten vernimmt; er jagt mutwillig die Wasser in die glänzende Stille der Lufthöhen, daß sie auf der glatten Spiegelfläche einen Perlenrausch verbreiten; jede Perle spiegelt das Universum und zerfließt, so jeder Gedanke spiegelt die ewige Weisheit und zerfließt.

Deine Hand lehnte an meiner Wange, und Deine Lippe ruhte auf meiner Stirn, und es war so still, daß Dein Atem verhauchte wie Geisteratem. Sonst eilt die Zeit den Glücklichen, aber diesmal jagte die Zeit nicht; eine Ewigkeit, die nie endet, ist diese Zeit, die so kurz war, so in sich, daß ihr kein Maß kann angelegt werden.

An milden Frühlingstagen, wo dünnes Gewölk der jungen Saat den fruchtbringenden Regen spendet, da ist es so wie jetzt in meiner Brust; mir ahnet, wie dem kaum gewurzelten Keim seine künftige Blüte ahnet, daß Liebe ewige, einzige Zukunft sei.

Gut sein begnügt die Seele, wie das Wiegenlied die Kinderseele zum Schlaf befriedigt. Gut sein ist die heilige Ruhe, die der Same des Geistes haben muß, eh' er wieder gezeitigt ist zur Saat. Der Geist aber ahnt, daß Gutsein die Vorbereitung zu einem tiefen unerforschlichen Geheimnis ist. Das hast Du mir anvertraut, Goethe! – gestern abend beim Sternenhimmel am offnen Fenster, wo ein Lüftchen nach dem andern hereinschwirrte und wieder hinaus. – Wenn also die Seele gut ist: das ist eine Ruhe, ein Einschlafen im Schoß Gottes, wie der Same im Schoß der Natur schläft, eh' er keimt. Wenn aber der Geist das Gute will, so will er die Gottheit selbst; so will er jenes Geheimnis der Güte als Speise, Nahrung und Vorbereitung seiner nahen Verwandlung; so pocht er an, wie der verborgne Strom im Felsenschoß, daß er ans Licht will. Solchen kühnen Mut hat Dein Geist, daß seinem Dringen Tor und Riegel aufgetan wurden, und daß er hervorbrausen durfte, über alle Zeiten hinweg, wo Geist in Geist greift, Well' in Well' geboren, Well' in Well' verloren.

Solcherlei Gespräche führten wir gestern abend, und Du sagtest noch: »Kein Mensch würde glauben, daß wir beide so miteinander sprechen.«

Wir sprachen auch von der Schönheit: Schönheit ist, wenn der Leib von dem Geist, den er beherbergt, ganz durchdrungen ist. Wenn das Licht des Geistes von dem Leib, den er durchdringt, ausströmt und seine Formen umkreist, das ist Schönheit. Dein Blick ist schön, weil er das Licht Deines Geistes ausströmt und in diesem Lichte schwimmt.

Der reine Geist bildet sich einen reinen Leib im Wort, das ist die Schönheit der Poesie. Dein Wort ist schön, weil der Geist, den es beherbergt, hindurch dringt und es umströmt.

Schönheit vergeht nicht! der Sinn, der sie in sich aufnimmt, hat sie ewig, und sie vergeht ihm nicht.

Nicht das Bild, das sie spiegelt, nicht die Form, die ihren Geist ausspricht, hat die Schönheit: nur der hat sie, der in diesem Spiegel den eignen Geist ahnt und ersehnt.

Schönheit bildet sich in dem, der sie sucht und im Bild wiederzugeben sucht, und in dem, der sie erkennt und sich ihr gleichzubilden sehnt.

Jeder echte Mensch ist Künstler, er sucht die Schönheit und sucht sie wiederzugeben, soweit er sie zu fassen vermag. Jeder echte Mensch bedarf der Schönheit als der einzigen Nahrung des Geistes.

Die Kunst ist der Spiegel der innersten Seele, ihr Bild ist es, wie sie aus Gott hervorging, was die Kunst Dir spiegelt. Alle Schönheit ist eine Erkenntnis Deiner eignen Schönheit.

Die Kunst ist es, die Dir ein sinnliches Ebenmaß des Geistes vor die leiblichen Augen zaubert.

Jeder Lebenstrieb ist Schönheitstrieb, sieh die Pflanze, ihre Triebe alle sind erfüllt mit der Sehnsucht zu blühen, und die Befriedigung dieser Sehnsucht lag schon im Samenkorn vorbereitet; also ist wohl Sehnsucht die sicherste Gewährleistung. Wer sich nach ewiger Schönheit sehnt, der wird sie haben und genießen.

Alles, was ich hier sage, schriebst Du mir ins Herz; wenn ich's noch nicht mit rechter Freiheit ausspreche? – Weil ich's nicht ganz zu fassen vermag.

Gestern abend, da streifte Dein Aug' über die fernen Gebirge, und da sagtest Du: »Die Leidenschaft, die ins Herz geboren ist, soll auch wachsen und gedeihen; denn es ist keine Begierde, der nicht das Göttliche gegenüberstände, um sie selig zu machen.«

Sie haben mich eingeführt in ihren Tempel, die Genien, und hier stehe ich verzagt, aber nicht fremd, diese Lehren sind mir verständlich, diese Gesetze geben mir Weisheit, das Trachten der Liebe ist nicht Trachten vergänglicher Menschen. Alle Blumen, die wir brechen, werden unsterblich im Opfer – ein liebend Herz entschwingt sich feindseligem Los.

Ich soll Dir erzählen von den Zeiten, wo ich Deinen Namen noch nicht hatte nennen lernen? Gewiß, Du hast recht, wissen zu wollen, was mich auf Dich vorbereitete, ich sagte Dir, daß Blumen und Kräuter zuerst mich ansahen, daß ich erkannte, im Blick sei eine Frage, eine Forderung, die ich nur mit zärtlichen Tränen beantworten konnte, dann lockte mich die Nachtigall, ihr selbständig Handeln, ihr Gesang, ihr Annähern und Zurückziehen lockte mich noch mehr als das Leben der Blumen, ich war ihr näher im Gemüt, ihr Umgang hatte etwas Reizendes; aus meinem Bettchen konnte ich ihr nächtlich Lied hören, ihr melodisch Stöhnen weckte mich, ich seufzte mit ihr und legte ihrem Gesang Gedanken unter, auf die ich tröstende Antworten erfand. Ich erinnere mich, daß ich damals unter blühenden Bäumen Ball spielte, ein junger Mann, der ihn fing, brachte mir ihn und sagte: »Du bist schön!« – Dies Wort brachte mir Feuer ins Herz, es glühte auf wie meine Wangen, aber ich dachte auf die Nachtigall, deren Gesang mich wahrscheinlich nächtlich verschöne, und in diesem Augenblick brach die heilige Wahrheit in meinem Geiste auf, daß alles, was über das Irdische erhebt, Schönheit erzeugt, und ich widmete mich der Nachtigall mit mehr Eifer, mein Herz hielt pochend still und ließ sich von ihren Tönen berühren wie von göttlichem Finger – ich wollte schön sein, und Schönheit war mir göttlich, ich neigte mich vor dem Gefühl der Schönheit und überlegte nicht, ob es äußerlich war oder innen. – Indessen hab' ich bis heute immer in der Schönheit, wo sie sich mir zeigte, eine nahe Verwandtschaft gefühlt, in Bildern, in Statuen, in Gegenden, in schlanken Bäumen. Obschon ich nun nicht schlank bin, so regt sich doch etwas in meinem Geist, was dieser Schlankheit entspricht, und ob Du auch lächelst, ich sage Dir, während ich mit dem Blick ihre himmelanstrebenden Wipfel verfolge, scheinen mir meine Eingebungen auch himmelanstrebend, und wie im Windesrauschen die weichen Zweige hin und her wogen, so wogt ein Gefühl gleichsam als belaubtes Gezweig eines hohen Gedankenstammes in mir. Und so wollte ich nur sagen, daß alle Schönheit erzieht, und daß der Geist, der wie ein treuer Spiegel die Schönheit fasset, hierdurch auch zu dem höheren Aufschwung kommt, der geistig diese selbe Schönheit ist, nämlich allemal ihre göttliche Offenbarung. – So denke denn Du, wie Du mir einleuchten mußt, da Du schön bist. Schönheit ist Erlösung. Schönheit ist Befreiung vom Zauber, Schönheit ist Freiheit, himmlische; hat Flügel und durchschneidet den Äther. – Schönheit ist ohne Gesetz, vor ihr schwindet jede Grenze, sie löst sich auf in alles, was ihren Reiz zu empfinden vermag, sie befreit vom Buchstaben; denn sie ist Geist. – Du bist empfunden von mir, Du machst mich frei vom Buchstaben und vom Gesetz. Sieh diese Schauer, die mich überwogen, es ist der Reiz Deiner Schönheit, der sich auflöst, mir im Gefühl, daß ich selber schön bin und Deiner würdig.

*

Der Sommer geht vorüber, und die Nachtigall schweigt, sie schweigt, sie ist stumm und läßt sich auch nicht mehr sehen. Ich lebte da ohne Zerstreuung die Tage hindurch; ihre Nähe war mir eine liebe Gewohnheit, es schmerzt mich, sie zu entbehren, hätte ich doch etwas, was sie mir ersetzt! Vielleicht ein ander Tier – an die Menschen dachte ich nicht, im Nachbargarten ist ein Reh in einer Umzäunung, es läuft hin und her an der Bretterwand und seufzt, ich mache ihm eine Öffnung, wo es den Kopf durchstecken kann. Der Winter hat alles mit Schnee bedeckt, ich suche ihm Moos von den Bäumen: wir kennen uns, wie schön sind seine Augen; welche tiefe Seele sieht mich aus diesen an, wie wahr, wie warm! Es legt gern den Kopf in meine Hand und sieht mich an, ich bin ihm auch gut, ich komme, sooft es mich ruft; in den kalten hellen Mondnächten hör' ich seine Stimme, ich springe aus dem Bett, mit bloßen Füßen lauf' ich durch den Schnee, um dich zu beschwichtigen. Dann bist du ruhig, wenn du mich gesehen hast, wunderbares Tier, das mich ansieht, anschreit, als wenn es um Erlösung bäte. Welch festes Vertrauen hat es auf mich, die ich nicht seinesgleichen bin! Armes Tier, du und ich sind getrennt von unsersgleichen, wir sind beide einsam, und wir teilen dies Gefühl der Einsamkeit; o, wie oft hab' ich für dich in den Wald gedacht, wo du lang auslaufen konntest und nicht ewig in die Runde, wie hier in deinem Verschlag; dort liefst du doch deines Weges immerzu und konntest mit jedem Schritte hoffen, endlich einen Gefährten zu treffen, hier aber war deines Ziels kein Ende, und doch war alle Hoffnung abgeschnitten. Armes Tier! Wie schaudert mich dein Geschick, und wie nah verwandt mag es dem meinen sein! Ich auch lauf' in die Runde, da oben seh' ich die Sterne schimmern, aber sie halten alle fest, keiner senkt sich herab, und von hier aus ist es so weit bis zu ihnen, und was sich lieben lassen will, das soll mir nah kommen; aber so war's mir in der Wiege gesungen, daß ich mußte einen Stern lieben, und der Stern blieb mir fern; lange Zeit hab' ich nach ihm gestrebt, und meine Sinne waren aufgegangen in diesem Streben, so daß ich nichts sah, nichts hörte und auch nichts dachte als nur meinen Stern, der sich nicht vom Firmament losreißen werde, um sich mir zu neigen. – Mir träumt, der Stern senkt sich tiefer und tiefer, schon kann ich sein Antlitz erkennen, sein Strahlen wird zum Auge, es sieht mich an, und meine Augen spiegeln sich in ihm. Sein Glanz umbreitet mich, von allem auf Erden, soweit ich denken kann, soweit mich meine Sinne tragen, bin ich getrennt durch meinen Stern.

*

Nichts hab' ich zu verlieren, nichts hab' ich zu gewinnen, zwischen mir und jedem Gewinn schwebst Du, der, göttlich strahlend im Geist, alles Glück überbietet; zwischen mir und jedem Verlust bist Du, der sich mir menschlich herabneigt.

Ich verstehe nur das Eine, an Deinem Busen die Zeit zu verträumen; – ich verstehe nicht Deiner Schwingen Bewegung, die Dich in den Äther tragen, droben in schwindelnder Höhe über mir, im ewigen Blau Dich schwebend erhalten.

*

Mich und die Welt umkleidet Dein Glanz, Dein Licht ist Traumlicht der höheren Welt, wir atmen ihre Luft, wir erwachen im Duft der Erinnerung; ja, sie duftet uns, sie hebt uns und trägt unser schwankendes Los auf ihren spiegelnden Fluten der Götter allumfassenden Armen entgegen.

Du aber hast's mir in der Wiege gesungen, daß ich Deinem Gesang, der in Träumen mich wiegt über das Los meiner Tage, träumend auch lausche bis ans End' meiner Tage.

*

Einmal schon, im Kloster, hatten mich die Geister bewogen, mich ihnen zu gesellen, in den hellen Mondnächten lockten sie mich; ich durchwanderte wunderliche dunkle Gänge, in denen ich die Wasser rauschen hörte, ich folgte beklemmt, bis zum Springbrunnen kam ich; der Mond schien in sein bewegtes Wasser und gewandete die Geister, die auf seinem wogenden Spiegel sich mir zeigten, in Silberglanz; – sie kamen, sie bedeuteten mein fragendes Herz und verschwanden wieder, es kamen andere, sie legten Geheimnisse auf meine Zunge, berührten alle Lebenskeime in meiner Brust, bezeichneten mich mit ihrem Siegel, sie verhüllten meinen Willen, meine Neigungen und die Kraft, die von ihnen auf mich ausgegangen war.

Wie war das? – Wie berieten sie mich? – Durch welche Sprache gab sich ihre Lehre kund? – Und wie soll ich Dir darlegen, daß es so war? – Und was sie mir lehrten? –

Die Mondnacht deckte mich im süßen, tiefen Kindesschlaf, dann trat sie aus sich selbst hervor und berührte mich an meinen Augen, daß sie ihrem Licht erwachten, und senkte sich mit magnetischer Gewalt in meine Brust, daß ich alle Furcht bezwang, auf Wegen, die nicht geheuer waren, forteilte in tiefer, regungsloser Nacht, bis ich zum Springbrunnen kam zwischen Blumenbeeten, wo jede Blume, jedes Kraut in täuschender Dämmerung ein Traumgesicht ausdrückte, wo sie buhlten und stritten mit der Phantasie. Dort stand ich und sah, wie der von den Lüften bewegte Wasserstrahl hinüber und herüber schwankte, und wie die Mondstrahlen das bewegte Wasser durchwebten, und wie der Blitz mit zingelnder Eile silberne Hieroglyphen in die wogenden Kreise schrieb; da kniete ich in den feuchten Sand und beugte mich über dies schwindelnde Lichtweben und lauschte mit allen Sinnen, und mein Herz hielt still und ich nahm es an, als ob mir diese schwindenden Strahlenzüge etwas hinschrieben, und mein Herz war freudig, als ob ich sie verstanden hätte, daß ihr Inhalt mir Glück andeute; ich ging zurück durch die langen, dunklen, labyrinthischen Gänge, vorüber an Bildern von wunderlichen Heiligen in gelassener Ruhe, bis zu meinem Bettchen, das im Erker am Fenster eingeklemmt war, da öffnete ich leise das Fenster dem Mondlicht und ließ es meine Brust anstrahlen; – ja, mich umarmte in jenen glücklichen, glückbringenden Momenten ein freudegeistiges Gefühl, groß, allumfassend; es umarmte von außen mein Herz, mein Herz fühlte sich umfaßt von einer liebenden Gewalt, der es sich anschmiegte im Schlummer, der von dieser Gewalt aus über mich kam. Wie soll ich diese Gewalt nennen? – Lebensgeist? – Ich weiß es nicht – ich weiß nicht, was ich erfahren hatte, aber ein Begegnis war es mir, ein wichtiges Ereignis, und ich war im Herzen als wie der Keim, der aus erster Verhüllung ans Licht hervorbricht; ich saugte Licht mit dem Geist und sah mit diesem, was ich vorher mit leiblichem Auge nicht gesehen haben würde, alles was die Natur mir spielend darbot, gab mir eine Erinnerung an ein Verborgenes in mir, die Farben und Formen der Pflanzenwelt sah ich mit tiefem, genießendem, verzehrendem Blick, durch den die Nahrung in meinen Geist übergehe.

Ach, wir wollen schweigen, wir wollen leisen Nebelflor über dies Geheimnis ziehen, durch den uns sein Inhalt ahnungsweise durchschimmert, ja, wir wollen schweigen, Freund! Wir können's ja doch nicht in Worten enthüllen. Aber pflanzt doch der irdische Mensch und säet in den Busen der Erde, die vorher unbefruchtet war, daß ihre nährenden Kräfte eindringen in die Frucht ihrer Erzeugnisse. Hätte sie Bewußtsein ihres sinnlichen Gefühls, dann würde dies Gefühl zu Geist in ihr werden; – so vergleiche ich den Menschengeist mit ihr, ein vom himmlischen Geistesäther umschwebtes Eiland; es wird aufgelockert und urbar gemacht, und göttlicher Same wird seinen sinnlichen Kräften vertraut, und diese Kräfte regen sich und sprießen in ein höheres Leben, das dem Licht angehört, welches Geist ist; und die Frucht, die dieser göttliche Same trägt, ist die Erkenntnis, die wir genießen, damit unsere der Seligkeit zuwachsenden Kräfte gedeihen.

Wie soll ich's noch darlegen, daß dieses leise Schauern und Spielen der Lüfte, des Wassers, des Mondlichts mir wirklich Berührung mit der Geisterwelt war? Wie Gott die Schöpfung dachte, da war der einzige Gedanke: »Es werde«, ein Baum, der alle Welten trägt und sie reift. So ist auch dieser Hauch, dies Gelispel der Natur in nächtlicher Stille ein leiser Geisterhauch, der den Geist weckt und ihn besäet mit allen Gedanken, die ewig währen.

Ich sah ein Inneres in mir, ein Höheres, dem ich mich unterworfen fühlte, dem ich alles opfern sollte, und wo ich's nicht tat, da fühlte ich mich aus der Bahn der Erkenntnis herausgeworfen, und noch heute muß ich diese Macht anerkennen, sie spricht allen selbstischen Genuß ab, sie trennt von den Ansprüchen an das allgemeine Leben und hebt über diese hinweg. Es ist sonderbar, daß das, was wir für uns selbst fordern, gewöhnlich auch das ist, was uns unserer Freiheit beraubt; wir wollen gebunden sein mit Banden, die uns süß deuchten und unserer Schwachheit eine Stütze, eine Versicherung sind; wir wollen getragen sein, gehoben durch Anerkenntnis, durch Ruhm und ahnen nicht, daß wir dieser Forderung das Ruhmwürdige und die Nahrung des Höheren aufopfern; wir wollen geliebt sein, wo wir Anregung zur Liebe haben, und erkennen's nicht, daß wir den liebenden Genius darum in uns verdrängen. Wo bleibt die Freiheit, wenn die Seele Bedürfnisse hat und sie befriedigt wissen will durch äußere Vermittlung? –

Was ist die Forderung, die wir außer uns machen, anders, als der Beweis eines Mangels in uns? Und was bewirkt ihre Befriedigung, als nur die Beförderung dieser Schwäche, die Gebundenheit unserer Freiheit in dieser? Der Genius will, daß die Seele lieber entbehre, als daß sie von der Befriedigung eines Triebes, einer Neigung, eines Bedürfnisses abhänge.

Wir alle sollen Könige sein; und je widerspenstiger, je herrischer der Knecht in uns, je herrlicher wird sich die Herrscherwürde entfalten, je kühner und gewaltiger der Geist, der überwindet.

Der Genius, der selbst die Flügel regt, sich in den blauen Äther erhebt und Lichtstrahlen aussendet, der Macht hat, die Seligkeit durch eigne Kräfte zu erzeugen; wie schön, wenn der sich vor Dir beugt und Dich lieben will, der nicht um Liebe klagt, nicht sie fordert, sondern sie gibt. – Ja, schön und herrlich übergehen ineinander, in den Lichtsphären des Geistes, in aller Glorie der Freiheit aus eignem, kräftigem Willen.

Die Erde liegt im Äther wie im Ei, das Irdische liegt im Himmlischen wie im Mutterschoß, die Liebe ist der Mutterschoß des Geistes.

Es gibt keine Weisheit, keine Erkenntnis des Wahren, die mehr will, als die Liebe zu ihr.

Jede Wahrheit buhlt um die Gunst des Menschengeistes.

Gerechtigkeit gegen alle beurkundet die wahre Liebe zu dem einen.

Je allseitiger, je individueller.

Nur der Geist kann von Sünden freimachen.

Willst Du allein sein mit dem Geliebten, so sei allein mit Dir.

Willst Du den Geliebten erwerben, so suche Dich zu finden, zu erwerben in ihm.

Du erwirbst, Du hast Dich selbst – wo Du liebst; wo Du nicht liebst, entbehrst Du Dich.

Bist Du allein mit Dir, so bist Du mit dem Genius.

Du liebst in dem Geliebten nur den eignen Genius.

Gott lieben, ist Gott genießen; wenn Du das Göttliche anbetest, so gibst Du Deinem Genius ein Gastmahl.

Sei immer mit Deinem Genius, so bist Du auf dem graden Weg zum Himmel.

Eine Kunst erwerben, heißt dem Genius einen sinnlichen Leib geben.

Eine Kunst erworben haben, bedeutet dem Geist nicht mehr Verdienst, als dem Vater eines bedeutenden Kindes. – Die Seele war da, und der Geist hat sie in die sichtbare, fühlbare Welt geboren.

Wenn Du einen Gedanken hast, der Dich belehrt, so fühlst Du wohl, es ist Dein liebender Genius, der Dir schmeichelt, der Dir liebkost. Er will Dich bewegen zur Leidenschaft für ihn.

Und alle Wahrheit ist Eingebung, und alle Eingebung ist Liebkosung, ist Inbrunst von Deinem Genius zu Dir, er will Dich bewegen, in ihn überzugehen.

Liebst Du, so nimmt Dein Genius eine sinnliche Gestalt an.

Gott ist Mensch geworden in dem Geliebten; in welcher Gestalt Du auch liebst – es ist das Ideal Deiner eignen höheren Natur, was Du im Geliebten berührst.

Die wahre Liebe ist keiner Untreue fähig, sie sucht den Geliebten, den Genius, wie den Proteus unter jeglicher Verwandlung,

Geist ist göttlicher Kunststoff, in der sinnlichen Natur liegt er als unberührtes Material. Das himmlische Leben aber ist, wenn Gott ihn als Kunststoff benützt, um seinen Geist in ihm zu erzeugen.

Drum ist das ganze himmlische Leben nur Geist, – und jeder Irrtum ist Verlust des Himmlischen. Darum ist jede Wahrheit eine Knospe, die durch die himmlischen Elemente blühen und Früchte tragen wird. Darum sollen wir die Wahrheit in uns aufnehmen, wie die Erde den Samen; als Mittel, durch welches unsere sinnlichen Kräfte in ein höheres Element hinüberblühen.

Indem Du denkst, sei immer liebend gegen Deinen Genius, so wird Dir die Fülle des Geistes nie ausgehen.

Die echte Liebe empfindet den Geist auch im Leib, in der sinnlichen Schönheit. Schönheit ist Geist, der einen sinnlichen Leib hat.

Aller Geist geht aus Selbstbeherrschung hervor.

Selbstbeherrschung ist, wenn Deinem Genius die Macht über Deinen Geist gegeben ist, die der Liebende dem Geliebten über sich einräumt.

Mancher will sich selbst beherrschen, daran scheitert jeder Witz, jede List, jede Ausdauer; er muß sich selbst beherrschen lassen durch seinen Genius, durch seine idealische Natur.

Du kannst den Geist nicht erzeugen, Du kannst ihn nur empfangen.

Du berührst Dich mit dem Geliebten in allem, was Du erhaben über Dich fühlst.

Du bist im Geheimnis der Liebe mit ihm, in allem, was Dich begeistert.

Nichts soll Dich trennen von diesem göttlichen Selbst, alles, was eine Kluft zwischen Dir und dem Genius bildet, ist Sünde.

Nichts ist Sünde, was mit ihm nicht entzweit, jeder Scherz, jeder Mutwill, jede Kühnheit ist durch ihn sanktioniert, er ist die göttliche Freiheit in uns.

Wer sich durch die Äußerung dieser göttlichen Freiheit beleidigt fühlt, der lebt nicht in seinem Genius; dessen Weisheit ist nicht Inspiration, sie ist Afterweisheit.

Die Erkenntnis des Bösen ist ein Abwenden aus der Umarmung der idealischen Liebe; die Sünde spiegelt sich nicht im Auge des Geliebten.

Du saugst göttliche Freiheit aus dem Blick der Liebe, der Blick des Genius strahlt göttliche Freiheit. –

Es gibt ein wildes Naturleben, das durch alle Abgründe schweift, den göttlichen Genius nicht kennt, aber ihn nicht verleugnet; es gibt ein zahmes, kultiviertes Tugendleben, das ihn von sich ausschließt.

Wer die Tugend übt aus eigner Weisheit, der ist ein Sklave seiner kurzsichtigen Bildungsanstalt – wer dem Genius vertraut, der atmet göttliche Freiheit, dessen Fähigkeiten sind zerteilt in alle Regionen, und er wird sich überall wiederfinden im göttlichen Element.

Ich habe oft mit dem Genius gespielt in der Nacht, statt zu schlafen, und ich war müde, und er weckte mich zu vertraulichen Gesprächen und ließ mich nicht schlafen.

So sprach der Dämon heute nacht mit mir, da ich versuchte, Dir deutlich zu machen, in welchen wunderlichen Mitteilungen ich in diesen Kinderjahren begriffen war; er setzte Gedanken in mir ab, ich erwog sie nicht, ich glaubte an sie, sie waren wohl andrer Art, aber das Eigene hatten sie, wie auch noch jetzt, daß ich sie nicht als Selbstgedachtes, sondern als Mitgeteiltes empfinde.

*

Du bist gut, Du willst nicht, daß ich dies süße Geschwätz mit Dir abbreche, es ist doch allenfalls so schön und so verständlich wie das Blinken der Sterne, was ich Dir hier sage; und wenn es auch nur wär' eine Melodie, die sich durch meinen Geist Luft machte – sie ist äußerst lieblich, diese Melodie, und lehrt Dich träumen.

O, lerne schöne Träume durch mein Geschwätz, die Dich beflügeln und mit Dir den kühlen Äther durchschiffen.

Wie herrlich schreitest Du auf diesen Traumteppichen! Wie wühlst Du Dich durch die tausendfältigen Schleier der Phantasie und wirst immer klarer und deutlicher, Du selber, der da verdient geliebt zu sein; da begegnest Du mir und wunderst Dich über mich und gönnst es mir, daß ich zuerst Dich fand.

Schlafe! Senke Deine Wimpern ineinander, lasse Dich umweben so leise wie mit Sommerfäden auf der Wiese. Umweben lasse Dich mit Zauberfäden, die Dich ins Traumland bannen, schlafe! Und gib vom weichen Pfühle träumend ein halb Gehör.

*

Am Weihnachtmorgen – das waren drei Jahre, eh' ich Dich gesehen habe, – gingen wir bei früher Zeit in die Kirche; es war noch Nacht, eine Laterne leuchtete voran, um durch den Schnee den Fußpfad zu finden, wir kamen an einer verödeten, verfallnen Klosterkirche vorüber, der Wind pfiff durch die zerbrochnen Fenster und klapperte mit den losen Dachziegeln; »in diesem Gemäuer hausen die Geister«, sagte der Laternenträger, »da ist es unsicher!« – Am Abend, im Zimmer der Großmutter, wo eine ebenso verödete und verfallene Gesellschaft eine Spielpartie machte, erinnerte ich mich dieser Bemerkung; ich dachte, wie schauerlich es sein müsse, da allein zu sein, und wie ich um alles in der Welt jetzt nicht dort sein möchte. Kaum hatte ich mir dies überlegt, so war die Frage innerlich, ob ich's nicht wagen möchte? – Ich schüttelte den Gedanken ab, er kam wieder, immer furchtsamer war ich, immer mehr wehrte ich mich gegen diesen unausführbaren Einfall, immer dringender wurde die Aufforderung dazu. Ich wollte ihr entgehen und setzte mich in eine andere Ecke des wohlerleuchteten Zimmers, aber da war's grade der offnen Tür eines dunklen Raumes gegenüber, nun spielten und zingelten Winke in der Finsternis, sie webten und schwebten bis an mich heran. Ich wickelte mich in den Fenstervorhang vor diesem Scheinwesen in der dunklen Kammer, ich drückte die Augen zu und träumte in mich hinein, da war ein freundlich Zureden in mir, ich solle an die Klostermauer gehen, wo die Geister spuken. Es war acht Uhr abends, ich überlegte, wie ich's wagen solle, in dieser Stunde einen einsamen weiten Weg zu gehen, den ich nicht genau kannte, und den ich selbst bei Tag nicht allein machen würde. – Es zog mich immer tiefer in einen vertrauten, abgeschlossenen Kreis; die Stimmen der Spielenden vernahm ich wie aus weiter Ferne, wie eine fremde Welt, die außer meinem Kreis sich rege.

Ich öffnete die Augen und sah die wunderlichen, unauflösbaren Rätselgesichter der Spielenden dort sitzen, vom hellen Kerzenschein beleuchtet; ich hörte die Ausrufungen des L'Hombrespiels wie Bannsprüche und Zauberformeln; diese Menschen mit ihrem wunderlichen Beginnen waren gespensterhaft; ihre Kleidung, ihre Gebärden unverständlich, grausenerregend; der Spuk war mir zu nahegekommen – ich schlich mich leise hinaus. Auf der Hoftreppe atmete ich wieder frei; da lag der reine Schneeteppich zu meinen Füßen und deckte sanft anschwellend alle Unebenheiten; da breiteten die bereiften Bäume ihre silbernen Zweige unter dem wandelnden Mondlicht aus. Diese Kälte war so warm, so freundlich, hier war nichts unverständlich, nichts zu fürchten, es war, als sei ich den bösen Geistern da drinnen entwischt; hier draußen sprachen die guten um so vernehmlichen zu mir, ich zauderte keinen Augenblick mehr, ihrem Geheiß zu folgen. Wie es auch werden mag, leise und behend klettere ich über das Hoftor, jenseits werf' ich mein Kleid über den Kopf, um mich zu verhüllen, und in flüchtigen Sprüngen setz' ich über den Schnee. Manches begegnet mir, dem ich ausbeuge, mit gesteigerter Angst und klopfendem Herzen komme ich an, scheu und furchtsam seh' ich mich um, aber ich zaudere nicht, den öden Platz zu betreten; ich bahne mir einen Weg durch das zusammengefallne, überschneite Gestein bis zur Kirchenmauer, an die ich den Kopf anlehne. Ich lausche, ich höre das Klappern der Ziegeln im Dach, und wie der Wind in dem losen Sparrwerk rasselt; ich denke: »Ob das die Geister sind?« – Sie senken sich herab – ich suche meine Angst zu bekämpfen – sie schweben in geringer Höhe über mir – die Furcht beschwichtigt sich allmählich; es war, als ob ich die offne Brust dem Hauch des Freundes biete, den ich kurz vorher noch für meinen Feind gehalten hatte.

Wie ich zum erstenmal vor Dir stand – es war im Winter 1807 – da erblaßte ich und zitterte, aber an Deiner Brust, von Deinen Armen umschlossen, kam ich so zu seliger Ruhe, daß mir die Augenlider zufielen und ich einschlief.

So ist's, wenn wir Nektar trinken, die Sinne sind dieser Kost nicht gewachsen. Da mildert der Schlaf den Sturm der Beseligung und vermittelt und schützt die gebrochnen Kräfte; könnten wir umfassen, was uns in einem Moment geboten ist, könnten wir sein verklärendes Anschauen ertragen, so wären wir hellsehend; könnte sich die Macht des Glückes in uns ausbreiten, so wären wir allmächtig; drum bitte ich Dich wenn es wahr ist, daß Du mich liebst, begrabe mich in Deinem Denken, decke mir Herz und Geist mit Schlaf, weil sie zu schwach sind, um ihr Glück zu tragen. Ja, Glück! Wer sich mit ihm verständigte, wie mit einem Geist, dem er sich gewachsen fühlte, der müßte es durch seine irdische Natur zur göttlichen verklären.

Gestern kam ein Brief von Dir, ich sah das blaue Kuvert auf dem Tisch liegen und erkannte ihn von weitem, ich verbarg ihn im Busen und eilte in mein einsames Zimmer an den Schreibtisch, ich wollte Dir gleich beim ersten Lesen die Fülle der Begeistrung niederschreiben. Da saß ich und faltete die Hände über dem Schatz und mochte ihn nicht vom warmen Herzen herunternehmen. Du weißt, so hab' ich mich auch nie aus Deinen Armen losgemacht; Du warst immer der erste und ließest die Arme sinken und sagtest: »Nun geh!« – Und ich folgte dem Befehl Deiner Lippen. Hätte ich dem Deiner Augen gefolgt, so wär' ich bei Dir geblieben; denn die sagten: »Komm her!«

Ich schlief also ein über dem Bewachen meines Kleinods im Busen, und da ich erwachte, las ich die zwei Zeilen von Deiner Hand geschrieben: »Ich war auch einmal so närrisch wie Du, und damals war ich besser als jetzt.«

O Du! – Von Dir sagt die öffentliche Stimme, Du seist glücklich, sie preisen Deinen Ruhm, und daß an den Strahlen Deines Geistes Dein Jahrhundert sich zum Äthergeschlecht ausbrüte, zum Fliegen und Schweben über Höhen und den Flug nach Deinen Winken zu richten; aber doch sagen sie, Dein Glück übersteige noch Deinen Geist. O wahrlich, Du bist Deines Glückes Schmied, der es mit kühnem, kräftigem Schlag eines Helden zurechtschmiedet; was Dir auch begegne, es muß sich fügen, die Form auszufüllen, die Dein Glück bedarf, der Schmerz, der andre zum Mißmut und zur Klage bewegen würde, der wird ein Stachel für Deine Begeistrung. Was andre niederschlägt, das entfaltet Deinen Flug, der Dich den Bedrängnissen enthebt, wo Du den reinen Äther trinkst und die Empfindung des Elends Dich nicht verdirbt. Du nimmst Dein Geschick als Kost nur aus den Händen der Götter und trinkst den bitteren Kelch wie den süßen mit dem Gefühl der Überlegenheit. Du läßt Dich nicht berauschen, wie ich mich berauschen lasse auf dem Weg, der zu Dir führt, Du würdest nicht, wie ich, der Verzweiflung hingegeben sein, wenn ein Abgrund Dich von Deinem Glück trennte. Und so hat Unglück nichts mit Dir zu schaffen, Du weißt es zu schaffen, Dein Glück, in jedem kleinen Ereignis, wie die allselige Natur auch der geringsten Blume eine Blütezeit gewährt, in der sie duftet und die Sonne ihr in den Kelch scheint.

Du gibst jedem Stoff, jedem Moment alles, was sich von Seligkeit in ihn bilden läßt, und so hast Du mir gegeben, da ich doch zu Deinen Füßen hingegeben bin; und so hab' auch ich einen Moment Deines Glückes erfüllt. Was will ich mehr! Da in ihm eine Aufgabe liegt bis zum letzten Atemzug.

*

Ich vergleiche Dich mit Recht jener freundlichen kalten Winternacht, in der sich die Geister meiner bemächtigen, in Dir leuchtet mir nicht die Sonne, in Dir funkeln mir tausend Sterne, und alles Kleinliche, was der Tag beleuchtet, schmilzt mir unberührt in seinen viereckigen Widerwärtigkeiten in erhabenen Massen zusammen.

Du bist kalt und freundlich und klar und ruhig wie die helle Winternacht; Deine Anziehungskraft liegt in der idealischen Reinheit, mit der Du die hingebende Liebe aufnimmst und aussprichst, Du bist wie der Reif jener Winternacht, der die Bäume und Sträucher mit allen kleinen Zweigen, Sprossen und Knospen zukünftiger Blüte mit weicher Silberdecke umkleidet. Wie jene Nacht, wechselnd mit Mond- und Sternenlicht, so beleuchtest Du Dein Begreifen und Belehren in tausend sich durchkreuzenden Lichtern und deckst mit milder Dämmerung und verschmilzst im Schatten; die aufgeregten Gefühle übergießest Du mit idealischen Formen, jede Stimmung wird durch Dein liebendes Verstehen individueller und reizender, und durch Dein sanftes Beschwichtigen wird die heftige Leidenschaft zum Genie.

*

Von jenen abenteuerlichen Geister-Nachtwegen kam ich mit durchnäßten Kleidern zurück, vom geschmolzenen Schnee; man glaubte, ich sei im Garten gewesen. Über Nacht vergaß ich alles, erst am andern Abend um dieselbe Stunde fiel mir's wieder ein und die Angst, die ich ausgestanden hatte; ich begriff nicht, wie ich hatte wagen können, diesen öden Weg in der Nacht allein zu gehen und auf dem wüsten, schaurigen Platz zu verweilen; ich stand an die Hoftüre gelehnt, heute war's nicht so milde und still wie gestern, die Winde hoben sich und brausten dahin, sie seufzten auf zu meinen Füßen und eilten nach jener Seite, die schwankenden Pappeln im Garten beugten sich und warfen die Schneelast ab, die Wolken trieben mit ungeheurer Eile, was festgewurzelt war, schwankte hinüber, was sich ablösen konnte, das nahmen die jagenden Winde unaufhaltsam mit sich. – In einem Nu war auch ich über die Hoftür und im flüchtigen Lauf atemlos bis an die Kirche gekommen, und nun war ich so froh, daß ich da war; ich lehnte mich an das Gemäuer, bis der Atem beschwichtigt war, es war, als ob Leib und Seele in dieser Verborgenheit geläutert würden, ich fühlte die Liebkosungen von meinem Genius in der Brust, ich fühlte sie als echte Mitteilungen im Geist. Alles ist göttliche Mitteilung, was wir erfahren, alles Erkennen ist Aufnehmen des Göttlichen, es kommt nur auf die zweifellose unschuldige Empfängnis unseres Geistes an daß wir auch den Gott in uns empfinden. Wie ich zum erstenmal vor Dir stand und mich Dein Blick wie ein Zauberstab berührte, da verwandeltest Du allen Willen in Unterwerfung, es kam mir nicht in den Sinn, etwas anders zu verlangen als in dieser Lichtatmosphäre, in die mich Deine Gegenwart aufnahm, zu verweilen, sie war mein Element; ich bin oft aus ihm verdrängt worden, immer durch eigene Schuld. Die ganze Aufgabe des Lebens ist ja das Beharren in ihm, und die Sünde ist das, was uns daraus verdrängt.

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So erlangen wir Seligkeit, wenn wir auf dem Weg uns zu erhalten wissen, auf dem wir sie ahnen. Nie hatte ich eine bestimmtere Überzeugung von ihr, als wenn ich glaubte, von Dir geliebt zu sein. Und was ist sie denn, diese Seligkeit? – Du bist fern, wenn Du Dich der Geliebten erinnerst, so schmilzt Deine Seele in diese Erinnerung ein und berührt so liebend die Geliebte, wie die Sonnenstrahlen wärmend den Fluß berühren; wie die leisen Frühlingslüfte, die den Duft und den Blütenstaub zu dem Fluß tragen, der diese schönen Geschenke des Frühlings mit seinen Wellen vermischt. Wenn alles Wirken der Natur sich geistig in sich selbst fühlt, so empfindet der Fluß diese liebkosenden Berührungen als ein innerlichstes Wesentlichstes. – Warum sollte ich dies bezweifeln? – Warum empfinden wir die Entzückungen des Frühlings, als nur weil er den Rhythmus angibt, mit dem der Geist sich aufzuschwingen vermag? – Also, wenn Du meiner gedenkst, so gibst Du den Rhythmus an, mit dem meine Begeistrung sich zu dem Begriff von Seligkeit aufzuschwingen vermag.

Ach, ich fühl's! Mich durchzucken leise Schauer, daß Du meiner gedenken solltest in der Ferne, daß das Behagen, die Lust Deiner Tage, einen Augenblick erhöht wird durch meine Liebe. Sieh, so schön ist das Geweb' meiner innern Gedankenwelt, wer möchte es zerstören! Musik! jeder Ton in ihr ist wesentlich, ist der Keim einer Modulation, in die die ganze Seele sich fügt, und so verschieden, so in sich abgeschlossen die melodischen Formen sind, in die diese Gedankenwelt sich ergießt: so umfaßt sie doch und vernimmt die Harmonie, wie der Ozean alle Strömungen in sich aufnimmt.

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So gehört denn auch zu unserm vögelsingenden, blütescheinenden Frühling, wo der Fluß zwischen duftenden Kräutern tanzt und ein Herz im andern lebt, jener kalte, vom Wind und Schnee durchkreuzte Winter, wo diese eisige Luft mir den Atem an den Haaren zu Reif ansetzte, wo ich so wenig wußte, was mich in den Wintersturm hinausjagte, als wo der Wind herkam, und wo er hineilte. Ach, Herz und Sturmwind eilten der Gegenwart zuvor in die Zukunft, also Dir entgegen. Darum riß es mich so unwiderstehlich aus dem stummen Dasein dem schönen Augenblick entgegen, der mein Lieben in allen seinen Aspirationen entwickeln und in Musik auflösen sollte.

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Es kann dem Winter nichts ungleicher sein als der Frühling, der unter seiner eisigen Decke der Zukunft harrt; es kann dem im Samen verschlossenen, in der Erde verborgenen Keim nichts fremder sein als das Licht, und doch ist es seine einzige Richtung; der Genius des Lebens treibt aus ihm hervor, um sich mit dem Licht zu vermählen. –

Dieses Anschmiegen an eine Geisterwelt, dies Vertrauen auf die geheime Stimme, die mich so seltsame Wege leitete, die mir nur leise Winke gab, – was war es anders als ein unwillkürliches Folgen dem Geist, der mich reizte, wie das Licht das Leben!

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Meine verödete Kirche stand diesseits an der Höhe, einer Mauer, die tief hinabging, einen Bleichplatz umschloß, der jenseits vom Mainfluß begrenzt war. Während mir vor der Höhe dieser Mauer schwindelte und ich furchtsam ausweichen wollte, hatte ich mich unwillkürlich hinübergeschwungen, und so fand ich im nächtlichen Dunkel kleine Spalten in der Mauer, in die ich Hände und Füße einklemmte und hervorragende Steine, auf denen ich mir hinabhalf; ohne zu bedenken, ob und wie ich wieder hinaufkommen werde, hatte ich den Boden erreicht; eine Wanne, die wohl im Sommer zum Bleichen gedient hatte und im Herbst war vergessen worden, rollte ich bis zum Ufer, stellte sie da auf und setzte mich hinein und sah dem Eisgang zu; es war mir eine behagliche, befriedigende Empfindung, so als eingerahmtes Bild der erhabenen Winternatur ins Antlitz zu schauen. Es war, als habe ich einer geheimen Anforderung Genüge geleistet. – Im Hinaufklettern fand ich ebenso kleine Lücken und Steine unter Händen und Füßen, wie ich sie brauchte. – Von nun an konnte kein Wetter, kein Zufall mich abhalten, ich überwand alle Schwierigkeiten; ohne zu wissen wie, fand ich mich an meiner Geistermauer, an der ich jeden Abend hinabkletterte und in meiner Wanne sitzend dem Treiben der Eisschollen zusah. Eine stieß ans Ufer, ich sträubte mich nicht mehr gegen die dämonischen Eingebungen, zuversichtlich sprang ich drauf und ließ mich eine Weile forttreiben. Dann sprang ich auf die nächste, bis ich endlich in der Mitte des Stromes dahinsegelte. – Es war eine wunderbare Nacht! Warum? – Jeder Naturmoment ist wunderbar, ist ungeheuer, wo er in seiner Freiheit waltet über den Menschengeist, ich habe mich ihm preisgegeben, und so wirkte er als höchstes Ereignis. – Am fernen Horizont schimmerte ein dunkles Rot, ein trübes Gelb und milderte die Finsternis zur Dämmerung, das Licht, gefesselt in den Umarmungen der Nacht; dahin schaute ich, dahin trug mich mein eisiger Seelenverkäufer, und der Wind, der sich kaum über die Höhe des Flusses hob, spielte und klatschte zu meinen Füßen mit den Falten meiner Kleider. Noch heute empfinde ich den königlichen Stolz in meiner Brust, noch heute hebt mich die Erinnerung der schmeichelnden Winde zu meinen Füßen, noch heute durchglüht mich die Begeistrung jener kühnen nächtlichen Fahrt, als wenn es nicht vor sechs Jahren, sondern in dieser kalten Winternacht wär', in der ich hier sitze, um Dir zulieb' und meiner Liebe zum Gedächtnis alles aufzuschreiben. Eine gute Strecke hatte ich mich dahin treiben lassen, da war ich ebenso willenlos, als ich den Fluß hinabgeschwommen war, wieder umgekehrt, ich schritt ruhig von einer nachkommenden Eisscholle zur andern, bis ich mich glücklich am Ufer befand. Zu Hause im Bette überlegte ich, wo mich wohl noch diese Wege hinführen möchten; es ahnt mir wie ein Weg, der immer weiter, aber nicht zurückführen werde, und ich war neugierig auf das Abenteuer der nächsten Nacht. Am andern Tag unterbrach eine zufällige Reise in die Stadt meine nächtlichen Geisterwanderungen. Da ich nach drei Wochen zurückkehrte, war dieser mächtige Reiz aufgehoben, und nichts hätte mich bewegen können, sie aus eigener Willkür zu wagen. – Sie lenkten freilich einen Weg, diese freundlichen Nachtgeister, der nicht wieder umlenkt, sie belehrten mich, wollten mich lehren der Tiefe, dem Ernst, der Weisheit meines Glückes nachzugehen und seine Beseligung nur als seinen Abglanz zu betrachten. So machen es die Menschen; während ihr Geschick ihnen einen vorübergehenden Genuß darbietet, wollen sie ewig dabei verweilen und versäumen so, sich ihrem Glück, das vorwärts schreitet, zu vertrauen, und ahnen nicht, daß sie den Genuß verlassen müssen, um dem Glück nachzugehen und es nicht aus den Augen zu lassen.

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Nur das eine ist Glück, was den idealischen Menschen in uns entwickelt und nur, insofern ihn Genuß in den Äther hebt und ihn fliegen lehrt in ungekannten Regionen, ist er ihm wahre Beseligung. – Gewiß, ich möchte immer bei Dir sein, in Dein Antlitz schauen, Rede mit Dir wechseln, die Lust würde nimmer versiegen: aber doch sagt mir eine geheime Stimme, daß es Deiner nicht würdig sein würde, mir dies als Glück zu setzen. Vorwärtseilen in den ewigen Ozean, das sind die Wege, die mir auf eisiger Bahn die Geister vorschrieben, auf denen ich Dich gewiß nicht verlieren werde, da auch Du nicht umkehrst und ich nie an Dir vorüberschreiten werde, und so ist gewiß das einzige Ziel alles Begehrens die Ewigkeit.

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Die Reise nach der Stadt hatte der Krieg veranlaßt. Wir flüchteten vor dem Getümmel der Österreicher mit den Franzosen; es war zu fürchten, daß unser kleines Stadtparadies mit seinen wohlgeordneten Lustrevieren nächstens unter den Hufen kämpfender Reiterei zertrümmert werde. Der Feind war nur flüchtig durch Feld und Wald gesprengt, hatte über den Fluß gesetzt, und die heimliche Ruh' des beginnenden Frühjahrs lagerte schützend über den Saatfeldern, deren junges Grün schon aus dem schmelzenden Schnee hervorragte, da wir wieder zurückkehrten.

Die kräftigen Stämme der Kastanienallee, Du kennst sie wohl! Manche Träume Deiner Frühlingstage flatterten dort mit der jungen Nachtigallenbrut um die Wette, wie oft bist Du dort an Liebchens Arm dem aufgehenden Mond entgegengeschlendert! Ich mag nicht daran denken; Du wirst Dich der heiteren Aussichten des wimmelnden Lebens auf dem Fluß am Tag, seiner ruheflüsternden Schilfgestade in warmen Sommernächten und seiner ringsum blühenden Gärten, zwischen denen sich die reinlichen Straßen verteilen, noch gar wohl erinnern und auch seiner Bequemheit für Deine Liebesangelegenheiten. Seitdem hat sich die Gegend wie die Lebensweise und auch die Bevölkerung ins Wunderbare gespielt, und keiner würde es glauben, der's nicht gesehen hat, und jeder, der mit seinem Reisejournal in der Tasche von einer Reise um die Welt hier durchkäm', würde glauben, in die Stadt der Märchen versetzt zu sein; eine mystische Nation wandelt in bunter, wunderbarer Kleidung zwischen den andern durch; die Greise und Männer mit langen Bärten in Purpur und grün und gelben Talaren, die Hälfte des Gewandes immer von verschiedener Farbe, die wunderschönen Jünglinge und Knaben in enganliegendem Wams, mit Gold verbrämt, die eine Hose grün, die andre gelb oder rot, dahersprengend auf mutigen Rossen mit silbernen Glöckchen am Hals, oder am Abend durch die Straßen auf der Gitarre und Flöte präludierend, bis sie vor Liebchens Fenster Halt machen! Denke Dir dies alles und den milden Sommerhimmel, der sich darüber wölbt und dessen Grenzen eine blühende, tanzende und musizierende Welt umfließt; denke Dir den Fürsten jenes Volkes mit silbernem Bart, weißem Gewand, der vor dem Tor seines Palastes auf öffentlicher Straße auf prächtigen Teppichen und Polstern lagert, umgeben von seinem Hofstaat, wo jeder einzelne ein absonderliches Zeichen seines Amts und Würde an seiner fabelhaften Kleidung hat. Da speist er unter freiem Himmel gegenüber den lustigen Gärten, hinter deren zierlichen Gittern hohe Pyramiden blühender Gewächse aufgestellt sind und mit feinem Drahtflor umzogene Volieren, wo der Goldfasan und der Pfau zwischen den rucksenden Haustauben einherstolzieren und die kleinen Singvögel jubeln, alles von zartem, grünem Rasen umschlossen, wo mancher Wasserstrahl emporschießt; die Knaben in verbrämten Kleidern goldne Schüsseln bringen, indessen aus den offnen Fenstern des Palastes Musik erschallt. Wir Kinder machten manchmal im Vorübergehen da Halt und sahen und hörten dem Verein schöner Jünglinge im Gesang, Flöte und Gitarre zu; aber damals wußte ich nicht, daß nicht überall die Welt so heiter lieblich, so reinen Genusses sich ausbreite; und so fand ich es auch nicht wunderbar, wenn die Nacht einbrach und aus dem Nachbarsgarten die herrlichsten Symphonien herüberschallten, von einem Orchester der ersten Künstler aufgeführt, wenn die herrlichen großen Bäume mit so viel bunten Lampen geschmückt waren, als Sterne sich am Himmel blicken ließen; da suchte ich einen einsamen Weg und sah den glühenden Johanniswürmchen zu, wie sich die im Flug durchkreuzten, und ich war überrascht von dem wunderbaren Leuchten, ich dachte nachts an diese Tierchen und freute mich auf den andern Abend, um sie wiederzusehen, auf die Menschen aber freute ich mich nicht, – sie leuchteten mir nicht ein, ich verstand und ahnte nicht, daß man sich mit ihnen verständigen könne; – manche Sommernacht auch schwamm die Kapelle von blasenden Instrumenten auf dem Main bald hinab und hinauf, begleitet von vielen Nachen, auf denen sich kaum ein Flüstern hören ließ, so tiefernst hörten sie der Musik zu. Da wurde ich auch mitgeschaukelt auf den sanften Wellen und sah die wechselnden Schatten, Lichter und Mondstrahlen und ließ das kühle Wasser über meine Hände laufen. So war das Sommerleben, das plötzlich durch die rückkehrenden Kriegsszenen unterbrochen ward. Da war an kein Flüchten zu denken, am Morgen, da wir erwachten, hieß es: »Hinab in den Keller! Die Stadt wird beschossen, die Franzosen haben sich hereingeworfen, die Rotmäntel und die Totenköpfe sprengen von allen Seiten heran, um sie herauszujagen!« Da war ein Zusammenlaufen auf den Straßen, da erzählte man sich von den Rotmänteln, daß die kein Pardon gäben, alles zusammenhauen, daß sie fürchterliche Schnurrbärte haben, rollende Augen, blutrote Mäntel, damit das vergossene Blut nicht so leicht zu bemerken sei. Allmählich wurden die Fensterladen geschlossen, die Straßen leer, die erste Kugel, die durch die Straßen flog, eilte alles in die Keller, auch wir, Großmutter, Tante, eine alte Cousine von achtzig Jahren, die Köchin, die Kammerjungfer, ein männlicher Hausgenosse. Da saßen wir, die Zeit wurde uns lang, wir lauschten – eine Bombe flog in unsern Hof, sie platzte. Das war doch eine Diversion, aber nun stand zu erwarten, daß Feuer ausbrechen könne. Allerlei, was meiner Großmutter unendlich wichtig war von Büchern, von Bildern, fiel ihr ein, sie hätte es gern in den Keller gerettet. Der männliche Hausgenosse demonstrierte, wie es eine Unmöglichkeit sei, den heiligen Johannes, ein Bild, was die wunderbare Eigenschaft hatte, die Fabel geltend zu machen, er sei ein Raffael, jetzt aus dem oberen Saal herunterzuschaffen, indem es viel zu schwer sei; ich entfernte mich leise, stieg zum Saal, hob das schwere Bild ab, nahm es an der Schnur über den Rücken, und so kam ich, noch eh' die Verhandlung beendigt war, zum Erstaunen aller und zur großen Freude meiner Großmutter, zur Kellertreppe herabgepoltert, ich meldete noch, wie ich aus dem Saalfenster gesehen und alles still sei; ich bekam die Erlaubnis, noch mehr zu retten, ich bekam die Schlüssel zur Bibliothek, um Kupferwerke zu holen, mit freudiger Eile sprang ich die Treppe hinauf, in die Bibliothek hätt' ich längst gern mich eingestohlen, da war eine Sammlung prachtvoller Muscheln, wunderbarer Steine, getrockneter Pflanzen, da hingen Straußeneier an den Wänden, Kokusnüsse, da lagen alte Waffen, ein Magnetstein, an dem alle Näh- und Stricknadeln hängen blieben, da standen Schachteln voll Briefschaften, Toiletten mit wunderlichem alten Geschirr und Geschmeide, Zitternadeln mit Sternen von bunten Steinen, o, ich freute mich, den Schlüssel zu haben, ich holte herunter, was man verlangte, zog den Schlüssel ab, ohne abzuschließen, und dachte mir eine stille, einsame Nacht, in der ich, alles durchsuchend und betrachtend, schwelgen wolle. Das Schießen hatte wieder angefangen, einzelne Reiter hörte man in gestrecktem Galopp die furchtbare Stille der Straße unterbrechen, die Furcht im Keller stieg, man dachte jedoch nicht daran, daß ich verletzt werden könne, und ich auch nicht; ich sprach nicht aus, daß ich mich nicht fürchte, und fühlte auch nicht, daß ich Gefahr lief, und so überkam ich das schöne Amt, alle zu bedienen, für alle Bedürfnisse zu sorgen. Ich hörte verschiedentlich die Reiter vorübersprengen. »Das mag ein Rotmantel sein!« dachte ich, lief eilig ans Fenster des unteren Geschosses, riß den Laden auf – siehe, – da hielt er in der mitten Straße mit gezogenem Säbel, langem fliegenden Schnurrbart, dicken, schwarzen, geflochtenen Haarzöpfen, die unter der roten Pelzmütze hervorhingen, der rote Mantel schwebte in den Lüften, wie er die Straße hinabflog, – alles wieder totenstill! – Ein junger Mensch in Hemdärmeln, bloßem Kopf, totenblaß, blutbespritzt, rennt verzweiflungsvoll hin und wieder, rasselt an den Haustüren, klopft an den Läden, keiner tut sich auf, mir klopft das Herz, ich winke – er sieht es nicht. Jetzt eilt er auf mich zu, bittend, – da ertönt der Schall eines Pferdes; er schmiegt sich in die Vertiefung des Hoftors, der Reiter, der ihn suchend verfolgt, sprengt an ihm vorbei, hält einen Augenblick, späht in die Ferne, wendet um und – fort. O, jeder Blick, jede Bewegung des Reiters und des Pferdes haben sich tief in mein Gehirn geprägt, und der arme Angsterfüllte eilt hervor und schwingt sich am schwachen Kinderarm herein in die rettenden Wände, aber kaum, – da ist der Reiter schon wieder, er sprengt an mich heran, ich rühr' mich nicht vom Fenster, er verlangt Wasser, ich eile in die Küche, es ihm zu holen, nachdem er getrunken und nachdem ich ihn die Straße hinabreiten gesehen erst, mache ich meinen Laden zu, und nun sehe ich mich nach meiner geretteten Beute um. Hätte sich der Rotmantel auf seinem Pferde in die Steigbügel gestellt, so hätte er meinen Geretteten entdeckt, dieser küßte mir zitternd die Hände und sagte mit leiser Stimme: »O mon dieu, mon dieu!« Ich lachte vor Freuden, aber dann brach ich in Tränen aus; denn es rührte mich, der Retter eines Menschen geworden zu sein, so ohne mich zu besinnen, so ohne zu wissen wie. – Und Du auch! – Rührt es Dich nicht? – Freut es Dich nicht, daß es mir gelungen ist? – Mehr als alle Schmeichelreden, die ich Dir sagen könnte? – »Sauvez-moi! Cachez-moi!« sagte er, »mon père et ma mère prieront pour vous.« Ich faßte ihn bei der Hand und führte ihn schweigend leise über den Hof nach dem Holzstall: dort untersuchte ich seine Wunde, das Blut abwaschen konnte ich nicht, ich hatte kein Wasser, holen mochte ich auch keins, der Nachbar Andree, dessen Du Dich erinnern mußt, war mit mehreren Freunden auf sein Observatorium gestiegen, um das Kriegswesen zu beobachten, er konnte mich bemerken. Ein einzig Mittel hatte ich erfunden; ich leckte ihm das Blut ab, denn es ihm so mit Speichel abzuwaschen, schien mir zu unbescheiden; er ließ mich gewähren, ich zog leise und sanft die anklebenden Haare zurück, da flog ein Huhn mit großem Geschrei vom oberen Holz herunter, wir hatten es verscheucht von dem Ort, wo es seine Eier zu legen pflegte, ich kletterte hinauf, um das Ei zu holen, die innere weiße Haut legte ich über die Wunde – es mag wohl geheilt haben, ich will's hoffen! – Nun eilte ich wieder in den Keller, die eine Schwester schlief, die andere betete vor Angst, die Großmutter schrieb an einem kleinen Tisch bei Licht ihr Testament, die Tante hatte den Tee bereitet, ich bekam die Schlüssel zur Speisekammer, um Wein und kalte Speisen zu holen, da dachte ich auch an den Magen meines armen Gefangenen und brachte ihm Wein und Brot. So ging der Tag vorüber und die Gefahr, der Keller wurde verlassen, mein Geheimnis fing an mich zu beklemmen; ich beobachtete jeden Schritt der Hausgenossen, der Köchin half ich in der Küche, ich holte ihr Wasser und Holz, unter dem Vorwand, daß es doch noch gefährlich sein könne unter freiem Himmel, sie ließ sich's gefallen; – endlich und endlich kam die Nacht, der Nachbar hatte Rapport gebracht, daß nichts zu fürchten sei vor der Hand, und so legte man sich zur Ruhe, deren man so sehr bedurfte. Ich hatte meine Schlafstätte im Nebenzimmer der Großmutter, von da konnte ich den Holzstall, der vom Mond beschienen war, beobachten, ich ordnete nun meinen Plan: fürs erste mußten Kleider beschafft werden, die den Soldaten verleugneten. Wie gut, daß ich die Bibliothek offen gelassen! Da oben hing ein Jagdkleid und Mütze – von welchem Schnitt, ob alt- oder neumodisch – wußt' ich nicht. Wie ein Geist schlich ich auf bloßen Strümpfen an der Tante Zimmer vorbei, schwebend trug ich's herunter, damit die metallnen Knöpfe nicht rasselten, er zog es an, es saß wie angegossen – Gott hat es ihm angepaßt und die Jagdmütze dazu! Ich hatte das Geld, was man mir schenkte, immer in das Kissen eines ledernen Sessels gesteckt, weil ich keine Gelegenheit hatte, es zu brauchen. Jetzt durchsuchte ich den Sessel, und es fand sich eine ziemliche Barschaft zusammen, die ich meinem Geretteten als Zehrpfennig einhändigte. Nun führte ich ihn durch den mondbeschienenen blüteduftenden Garten, wir gingen langsamen Schrittes Hand in Hand bis hinter die Pappelwand, an die Mauer, wo alle Jahr' die Nachtigall in der Rosenhecke ihr Nest baute, es war grade die Zeit, was half's – dies Jahr mußte sie gestört werden. Da wollte er mir danken, da nahm er mich auf seine Arme und hob mich hoch, er warf die Mütze ab und legte den verbundenen Kopf auf meine Brust, was hatte ich zu tun? Ich hatte die Arme frei, ich faltete sie über seinem Kopf zum Gebet; er küßte mich, stieg über die Rosenheckenmauer in einen Garten, der zum Main führte, da konnte er sich übersetzen; denn es waren Nachen am Ufer.

Es gibt unerwartete Erfahrungen, die sind vergessen, gleich als ob sie nicht erlebt wären, und erst dann, wenn sie wieder aus dem Gedächtnisbrunnen heraufsteigen, ergibt sich ihre Bedeutung – es ist, als ob eine Lebenserfahrung dazu gehörte, ihre Wichtigkeit empfinden zu lernen; es sind andre Begebnisse, auf die man mit Begeistrung harrt, und die schwimmen so gleichgültig vorüber wie das fließende Wasser. – Wie Du mich fragtest, wer mir den ersten Kuß gegeben habe, dessen ich mich deutlich erinnere, da schweifte mein Besinnen hin und her wie ein Weberschiffchen, bis allmählich dies Bild des Erretteten lebhaft und deutlich hervortrat, und in diesem Widerhall des Gefühls erst werde ich gewahr, welche tiefe Spuren sie in mir zurückgelassen! – So gibt es Gedanken wie Lichtstrahlen, die einen Augenblick nur das Gefühl der Helle geben und dann verschwinden, aber ich glaube gewiß, daß sie ewig sind und uns wieder berühren in dem Augenblick, wo unsere sittliche Kraft auf die Höhe steigt, mit der allein wir sie zu fassen vermögen. Ich glaube: mit uns selbst ins Gericht gehen, oder wenn Du willst, Krieg führen mit allen Mächten, ist das beste Mittel, höherer Gedanken teilhaftig zu werden. Es gibt eine Art Lumpengesindel auch im Geist, das alle Befähigung zur Inspiration unterdrückt und sich wuchernd ausbreitet; dahin gehören die Ansprüche aller Art nach außen: wer etwas von außen erwartet, dem wird es in dem Innern nicht kommen, aller Reiz, der nach außen zur Versündigung wird, kann im Innersten konzentriert zur Tugend werden; – das Gefühl, das, sowie es sich mit der Oberfläche des Lebens berührt, gleich zur Eitelkeit anschießt: in der innersten Seele festgehalten, wird sich zu einer demütigen Unterwerfung an die Schönheit ausbilden. Und so könnte wohl jede Verkehrtheit daher entstehen, weil ihr Reiz fehlgeht in seiner Befriedigung. Alle Ansprüche, aller Reiz, alle Leidenschaft soll befriedigt werden, aber nur durch das Göttliche und so nicht der Sklave der Leidenschaft, sondern unserer höheren Natur werden.

Wenn ich mich über mich selbst stelle und über mein Tun und Treiben, dann kommen mir gleich Gedanken, von denen empfinde ich, sie haben eine bestimmte Beziehung auf eine bestimmte Erscheinung in mir, wie gewiß auch bei den verschiedenen Epochen in dem Pflanzenleben die Nahrung eine verschiedne geistige Richtung annimmt; daß zum Beispiel beim Blühen der Nahrungsstoff, der doch aus denselben Elementen besteht, eine in sich selbst erhöhte geistige Verwandlung vornimmt; denn er äußert sich ja nicht mehr bloß vegetierend in dem Leben der Pflanze, sondern duftend, wissend, in ihrem Geist. Gedanken dieser Art beglücken mich, wenn ich Frieden mit mir schließe und den Schlaf gleichsam annehme als Versöhnung mit mir selbst; so gestern abend fühlte ich vor dem Einschlafen, als ob mich mein Inneres in Liebe aufgenommen habe, und da schlief ich die Ruhe bis tief in meine Seele hinein und wachte von Zeit zu Zeit auf und hatte Gedanken. Ich schrieb sie, ohne sie weiter zu spinnen oder ihren Gehalt zu wägen, ja selbst manche, ohne sie ganz zu verstehen, mit Bleistift auf – und schlief dann gleich wieder fort, aber bald weckte mich's wieder auf; diese Gedanken waren wie Ausrufungen meiner Seele in der Empfindung von Behagen. Ich will sie hier abschreiben, wie ich sie nacheinander erfahren. Ob sie Wert und Gehalt haben, lasse ich unberührt, aber immer werden sie ein Beweis sein, daß der Geist auch im Schlaf lebendig wirkt. Ich glaub', daß jede Handlung ihre unendlichen Folgen hat; daß uns die Wahrheit Genuß gewährt, daß also jeder Genuß eine Wahrheit zum tiefsten Grunde hat, daß also jeder Genuß durch seine Wahrheit legitimiert ist.

Ich glaube, daß alle Ahnungen Spiegelungen der Wahrheit sind.

Der Geist ist Auge, je schärfer er sieht, je deutlicher wird die Ahnung, je reiner tritt das Spiegelbild der Wahrheit in der Empfindung auf. Die Vielheit soll zur Einheit führen, der Spiegel fasset alles in einen Strahl zusammen.

Das Licht gebärt das allseitige Leben und Streben in die Einheit, in das Reich des Göttlichen.

Die Philosophie ist Symbol der Leidenschaft zwischen Gott und dem Menschen.

Die Liebe ist eine Metamorphose der Gottheit.

Jeder Gedanke ist die Blüte einer Pflanze; was ist dann aber ihre Frucht? – Die Wirkung auf unser Inneres ist ihre Frucht.

Zum Denken des wahren Geistes gehört die Unschuld. Nur mit der unschuldigen Psyche beredet sich der Geist.

Der Geist stellt die erkrankte Unschuld her. Die Frucht des Geistes genießen, macht unschuldig, das ist die Wirkung der Frucht.

Das Sinnliche ist Symbol des Geistigen, ist Spiegel einer noch nicht in die geistige Erfahrung getretnen Wahrheit.

Geistige Erfahrung ist gebornes Leben. Wenn wir Besitzer der geistigen Wahrheit sind, dann ist das Sinnliche aufgelöst.

Alles Sinnliche ist unverstanden, durch sein Verstehen wird es geistig.

Geistige Entwicklung macht große Schmerzen, sie ist der Beweis, wie sehr der Geist mit dem Physischen zusammenhängt.

Der Geist, der keine Schmerzen macht, ist Leben nach der Geburt.

Oft stirbt der Geist, sein Tod ist Sünde. Aber er ersteht wieder zum Leben; die Auferstehung von den Toten macht Schmerzen.

Der Geist ist ein Zauberer, er kann alles! Wenn ich mit dem vollen Gefühl der Liebe vor Dich hintrete, dann bist Du da.

Was ist denn Zauberei? Die Wahrheit des Gefühls geltend machen. –

Die Sehnsucht hat allemal recht, aber der Mensch verkennt sie oft.

Der Mensch hat einen sinnlichen Leib angenommen, damit er in ihm zur Wahrheit komme; das Irdische ist da, damit sich in ihm das Göttliche manifestiere.

Das ganze Wirken der Natur ist nur ein Trieb, der Wahrheit nachzugehen.

Die Wahrheit hat keinen Leib, aber das sinnliche Leben ist die Spur ihres Wegs.

Manchmal hab' ich den Trieb, mich von Dir, wie ich Dich sinnlich erkenne, abzuwenden und an das göttliche Geheimnis Deines Daseins zu appellieren, dann fühl' ich, daß sich alle verschiedenen Neigungen in einer auflösen.

Gewiß! Die Liebe ist Instinkt einer höheren Gemeinschaft, einer göttlichen Natur mit dem Geliebten. Drum schließt Liebe alle verschiedenen Neigungen aus.

Wenn wir erst wissen, daß alle äußeren Augen ein inneres Auge sind, das uns sieht, so tun wir alles dem inneren Auge zulieb'; denn wir wollen in unserer geheimen Handlung der Schönheit gesehen sein.

Unser Trieb, schön zu handeln, ist der Trieb, dem innern Auge wohlgefällig zu erscheinen. Drum ist der Trieb nach Anerkenntnis, nach Ruhm eine verkehrte Befriedigung dieser angebornen, unvertilgbaren Neigung, weil ihr Ursprung göttlich ist. Was haben wir von allem äußeren Glanz, von dem Gaukelspiel des Beifalls einer unwissenden Menge, wenn wir vor dem Auge des inneren Genius nicht bestehen, wenn unsere Schönheit vor ihm zerrüttet ist! Ich will nur für meine Schönheit leben, ich will nur ihr huldigen; denn sie ist der Geliebte selbst.

Wenn wir den Blick des inneren Auges umschreiben, so haben wir die Kunst und das Wissen.

Alles Wissen soll sich zur Kunst erheben, es soll ebenso unschuldig die Wahrheit nachahmen wie die bildende Kunst, und so wird sie ein Spiegel der Wahrheit, ein Bild, in dem wir sie erkennen.

Denken ist ein unmittelbares Nachahmen der Wahrheit, es ist nicht sie selbst, sie hat keinen Leib, sie hat nur eine Erscheinung.

Suche nur die Wahrheit in Deinem Innern, so hast Du den Vorteil, sie zu finden und Dich zugleich in sie aufzulösen.

In Deinem Innern wirst Du ein lebendiges Bewegen wahrnehmen, wie das Bewegen des Wassers, es ist nichts als ein Bewegen, sich in die Wahrheit aufzulösen.

Alles Leben löst sich in eine höhere Wahrheit auf, geht in eine höhere Wahrheit über, wär' es anders, so wär' es Sterben.

Schönheit ist eine Auflösung der sinnlichen Anschauung in eine höhere Wahrheit; Schönheit stirbt nicht, sie ist Geist.

Alle Disharmonie ist Unwahrheit.

Wenn Du schlafen willst, so ergib Dich Deinem innern Mond. Schlaf in dem Mondlicht Deiner Natur! Ich glaub', das erzieht und nährt Deinen inneren Menschen, wie das Mondlicht den Geist der Pflanze ernährt und befördert.

Wer von selbst seinen Geist der Natur unterwirft, für den gibt es keinen Tod.

Der Geist muß so mächtig werden, daß er den Tod des Leibes nicht empfindet.

Der Geist braucht nicht zu denken und kann doch mächtig sein, bloß durch die Reinheit des Willens.

In allem nur sich sehen und gegen sich den reinsten Willen haben, dann ist der Geist mächtig.

Auch der sinnliche Schlaf soll so genossen werden, daß er ein geistiger Balsam sei.

Vielleicht vererben sich die geistigen Reichtümer wie die irdischen, vielleicht verteilen die Geister ihre Fähigkeiten auf ihre Nachkommen! »Ich erkenne an dem Gedanken, wes Geistes Kind du bist«. Dies Sprichwort beurkundet meine Bemerkung.

Wachsen ist das Gefühl, daß das Uranfänglichste zu seinem Ursprung in die Ewigkeit dringt.

Der Genius allein kann die verletzte Unschuld herstellen. O komm Genius und befriede Dich mit mir!

Hier übermannte mich ein tieferer Schlaf. – Am Morgen fand ich mein beschriebenes Papier, ich erinnerte mich seiner kaum, aber sehr deutlich erinnerte ich mich des Behagens in der Nacht, und daß es eine Empfindung war, wie dem Kind in der Wiege das Schaukeln sein muß. und ich dachte, daß ich oft so träumen möchte. –

Nun will ich Dir auch gleich die Geschichte meines zweiten Kusses erzählen; er folgte beinah' unmittelbar auf den ersten, und was denkst Du von Deinem Mädchen, daß es so leichtfertig geworden! Ja, diesmal wurde ich leichtfertig, und zwar mit einem Freund von Dir. – Es klingelt, hastig springe ich an die Haustür, um zu öffnen; ein Mann in schwarzer Kleidung, ernsten Ansehens, etwas erhitzten Augen tritt ein, noch ehe er seinen Namen genannt oder gesagt, was sein Verlangen ist, küßt er mich; noch ehe ich mich besinnen konnte, geb' ich ihm eine Ohrfeige, und dann erst seh' ich ihm ergrimmt ins Antlitz und erkenne ein freundliches Gesicht, das gar nicht erschreckt und nicht erbittert über mein Verfahren zu sein scheint; um meiner Verlegenheit zu entgehen – denn ich wußte nicht, ob ich Recht oder Unrecht getan hatte – öffne ich ihm rasch die Türen zu den Zimmern der Großmutter. Da war nun meine Überraschung bald in Schrecken umgewandelt, da diese mit der höchsten Begeistrung ausrief, einmal über das andre: »Ist es möglich? Herder? mein Herder! Daß euer Weg euch zu dieser Grillentür führt? – Seid tausendmal umarmt!« Und hier folgten diese tausend Umarmungen, während denen ich mich leise davonschlich und wünschte, es möge in diesem Schwall von Liebkosungen die eine untergehen, die ihm mit einer Ohrfeige war beantwortet worden. Allein, dem nicht so, er vergaß weder Kuß noch Ohrfeige, er schielte, an das Herz der Großmutter von ihren umfassenden Armen gefesselt, über ihre Achsel hinaus, nach der Enkelin und machte ihr einen bittenden Vorwurf. Ich verstand ihn sogleich und machte mich ihm auch verständlich, er solle mich nicht verklagen, sonst wolle ich mich rächen, und schlich hinter die Vorzimmer. Allein Herder hatte keine Andacht mehr für die Großmutter, für ihre schönen Erinnerungen aus der Schweiz, für ihre Mitteilungen aus den Briefen von Julie Bondeli, für ihre Schmeichelreden und begeisterten Lobsprüche, für ihre Reden von gelehrten Dingen. Er fragte, ob sie ihm nicht ihre Enkelkinder wolle zeigen? So wurden wir ihm denn alle drei feierlich vorgeführt und von der Großmutter zugleich belehrt, wie glücklich wir seien, ihn zu sehen und von ihm gesegnet zu sein. Er war auch gar nicht faul, ging rasch auf mich zu, legte mir die Hand auf den Kopf, unter welcher ich ihn drohend ansah, und sagte langsam und feierlich: »Diese da scheint sehr selbständig, wenn Gott ihr diese Gabe als eine Waffe für ihr Glück zugeteilt hat, so möge sie sich ihrer ungefährdet bedienen, daß alle sich ihrem kühnen Willen fügen und niemand ihren Sinn zu brechen gedenke.« Ziemlich verwundert war die Großmutter über diesen wunderlichen Segen, noch mehr aber, daß er die Schwestern nicht segnete, die doch ihre Lieblinge waren. Wir wurden entlassen und gingen in den Garten; wir trugen damals breite Schärpen von blau und weiß geflammter Seide, auf dem Rücken waren sie in Schleifen gebunden, die in der vollen Breite, welche wohl eine Elle betrug, ausgebreitet waren, so daß sie gleichsam Schmetterlingsflügel bildeten. Während ich in meinem Blumenbeet arbeitete, haschte mich einer an diesen Flügeln; es war Herder. »Siehst du, kleine Psyche«, sagte er, »mit den Flügeln genießt man wohl die Freiheit, wenn man sie zu rechter Zeit zu brauchen weiß, aber an den Flügeln wird man auch gefangen, und was gibst du, daß ich dich wieder loslasse«? – Er verlangte einen Kuß, ich verneigte mich und küßte ihn, ohne das Geringste einzuwenden.

Der Kuß des geretteten Franzosen war ganz im Einverständnis meiner Empfindung, ich kam ihm auf halbem Wege entgegen, und doch war er unmittelbar darauf vergessen, und jetzt erst, nach sechs Jahren, tauchte er aus meiner Erinnerung auf als eine neue Erscheinung. Herders Kuß war von meiner Seite ganz willenlos oder eher unwillig angenommen, und doch hab' ich ihn nicht vergessen; ich konnte in erster Zeit den Eindruck nicht verwinden, er verfolgte mich im Traum; bald war mir's, als habe ich wider meinen Willen etwas weggeschenkt, bald überraschte es mich, daß dieser große bedeutende Mann mich so dringend aufgefordert hatte, ihn zu küssen, dies war mir eine rätselhafte Erfahrung. Herder sah mich so feierlich an, nachdem er mich geküßt hatte, daß mich ein Schauer befiel; der rätselhafte Name Psyche, dessen Bedeutung ich nicht verstand, versöhnte mich einigermaßen mit ihm, und wie denn manches Zufällige, was vielen unscheinbar vorüberschweift, einen tief rührt und eine währende Bedeutung für ihn gewinnt, so war mir dies unbegriffne Wort Psyche ein Talisman, der mich einer unsichtbaren Welt zuführte, in der ich mich unter diesem Namen begriffen dachte.

So lehrte mir Amor das Abc, und in meiner Geisblattlaube, in der die Spinnen rund um mich her dem beflügelten Insektenvolk Netze stellten, seufzte die kleine beflügelte Psyche über diese problematische Lektion.

Ach Herr! – Im Anfang des Jahres ist die Sonne mild, sie schmeichelt den jungen Trieben, dann spaltet sie die Keime und wird immer dringender, die geöffnete Knospe kann sich nicht wieder in die kühle Kammer bewußtloser Dunkelheit verschließen, ihre Blüte fällt dem glühenden Strahl, der sie erst lockte, als Opfer.

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