Wanderungen, auf der Suche

So stark auch das Interesse an seinem dramatischen Werke sein mochte, ließ sich doch der andere Eindruck auf Goethes Gefühl dadurch nicht beschwichtigen. Tief ergriffen hatte ihn ein Brief aus Sesenheim. Er fühlte Friederikens Schmerz, ohne ihn lindern zu können. Losreißen musste er sich von der düstern Stimmung, die sich seiner bemächtigte und seine ganze Tätigkeit zu lähmen drohte. Er bedurfte der Zerstreuung. Erst in der freien Natur fühlte er sich wieder wohler. Seine Freunde nannten ihn den Wanderer, weil er oft mehrere Tage in der Umgebung von Frankfurt umherstrich, und bisweilen selbst den Weg nach Darmstadt und Homburg einschlug. Auf diesen einsamen Wanderungen entstanden mehrere seiner lyrischen Poesien, unter denen sich nur das Gedicht: "Wanderers Sturmlied", das er, während er einem furchtbaren Wetter entgegenging, vor sich hin rezitierte, in seinen Werken erhalten hat. Bisweilen beschränkte er seine Streifzüge bloß auf Frankfurt und die Vorstädte dieses Orts. Er kam dadurch mit den verschiedenen Ständen und Volksklassen in Berührung. In einem Briefe vom ersten Juni 1773 erzählte Goethe, wie er rüstig Wasser herbeigeschleppt, um ein Nachts in der Judengasse ausgebrochenes Feuer löschen zu helfen. "Die wundersamsten, innigsten, mannigfachsten Empfindungen", schrieb er, "haben mir meine Mühe auf der Stelle belohnt. Ich habe bei dieser Gelegenheit das gemeine Volk wieder kennen gelernt und bin überzeugt worden, dass es doch die besten Menschen sind."

Durch seine scheinbar zerstreute Lebensweise ward Goethes Tätigkeit nicht unterbrochen. Wenigstens entging ihm keine der neuern literarischen Erscheinungen in dem Gebiete der Literatur. Von dem Eindruck, den Herders "älteste Urkunde des Menschengeschlechts" auf ihn gemacht, konnte er sich selbst kaum Rechenschaft geben. In einem Briefe an einen Freund des elterlichen Hauses, an den damals in Algier lebenden dänischen Konsul Schönborn, vom 8. Juni 1773, nannte er Herders Werk "ein so mystisch weitstrahlsinniges Ganze, eine in der Fülle verschlungener Äste lebende Welt, dass weder eine Zeichnung nach verjüngtem Maßstabe einigen Ausdruck der Riesengestalt nachäffen, noch eine treue Silhouette einiger Teile melodisch und mit sympathetischem Klang in der Seele anschlagen könnte. Herder", fügte er hinzu, "ist in die Tiefen seiner Empfindung hinabgestiegen, hat darin alle die hohe heilige Kraft der simplen Natur aufgewühlt, und führt sie nun in dämmerndem, wetterleuchtendem, hier und da morgenfreundlich lächelnden orphischem Gesange vom Aufgange herauf über die neue Welt, nachdem er vorher die Lasterbrut der neuern Geister, Deisten, Atheisten, Philologen, Textverbesserer, Orientalisten u.s.w. mit Feuer und Schwert und Flutsturm ausgetilgt."

Mit dieser glühenden Begeisterung für Herder kontrastierte ein in diesem Briefe enthaltener heftiger Ausfall gegen Wieland, der durch eine nicht sonderlich günstige Beurteilung des Götz von Berlichingen im deutschen Merkur Goethes Autoreitelkeit gekränkt hatte und dadurch in seiner früheren Achtung sehr gesunken war. Klopstock ward Goethes Lieblingsdichter. Die Messiade hatte ihn schon in seiner Jugend begeistert. Sorgfältig schrieb er sich aber auch die einzelnen Oden und Elegien jenes Sängers ab, und freute sich sehr, als die Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt die erste Sammlung von Klopstocks Gedichten veranstaltete. Auch für die von diesem Schriftsteller damals herausgegebene "Deutsche Gelehrtenrepublik" interessierte sich Goethe lebhaft. "Dies herrliche Werk", schrieb er, "hat mir neues Leben in die Seele gegossen. Die einzige Poetik aller Zeiten und Völker, die einzigen Regeln, die möglich sind! Das heißt Geschichte des Gefühls, wie es sich nach und nach festigt und läutert, und wie mit ihm Ausdruck und Sprache sich bilden. Und die biedersten Aldermans-Wahrheiten von dem, was edel und menschlich ist am Dichter, alles das aus dem tiefsten Herzen, eigenster Erfahrung, mit einer bezaubernden Simplizität hingeschrieben. Der unter den Jünglingen, den das Unglück unter die Rezensentenschaar geführt hat, und der nun, wenn er dies Werk liest, nicht seine Feder wegwirft, alle Kritik und Kritelei verschwört, sich nicht wie ein Quietist zur Contemplation seiner selbst niedersetzt, aus dem wird nichts; denn hier fließen die beiden Quellen bildender Empfindung lauter aus dem Thron der Natur."

Zusammentreffen mit Lavater

Eine der eigentümlichsten Erscheinungen in der damaligen literarischen Welt war Lavater. Es hieß, er werde nach Frankfurt kommen. Diesen merkwürdigen Mann kennen zu lernen, war für Goethe von hohem Interesse. In einem Briefe an Schönborn vom 8. Juni 1773 beklagte er Lavaters "Mangel an selbstständigem Gefühl," und entwarf von ihm eine Art von Charakteristik in den Worten: "Die beste Seele wird von dem Menschenschicksal so innig gepeinigt, weil ein kranker Körper und ein schweifender Geist ihm die kollektive Kraft entzogen und so der besten Freude des Wohnens in sich selbst, beraubt hat. Es ist unglaublich, wie schwach er ist, und wie man ihm, der doch den schönsten, schlichtesten Menschenverstand hat, sogleich Rätsel und Mysterien spricht, wenn man aus dem in sich und durch sich lebenden und wirkenden Herzen redet."

Sein Urteil über Lavater änderte Goethe, als er ihn bald nachher persönlich kennen lernte. "Er war", schrieb er den 4. Juli 1773, "vier Tage bei uns, und ich habe wieder gelernt, dass man über Niemand reden soll, wenn man ihn noch nicht gesehen hat. Wie ganz anders ward doch Alles! Lavater sagt so oft, dass er schwach sei, und ich habe noch Niemand gekannt, der schönere Stärken gehabt hätte, als er. In seinem Element ist er unermüdlich tätig, fertig, entschlossen, und eine Seele voll der herrlichste Liebe und Unschuld. Ich habe ihn nie für einen Schwärmer gehalten, und er hat noch weniger Einbildungskraft, als ich mir vorstellte. Aber weil seine Empfindungen ihm die wahrsten, so sehr verkannten Verhältnisse der Natur in seine Seele prägen, er daher jede Terminologie wegwirft, aus vollem Herzen spricht und handelt, und seine Zuhörer in eine fremde Welt zu versetzen scheint, indem er sie in die ihnen unbekannten Winkel ihres eignen Herzens führt,—kann er dem Vorwurf eines Phantasten nicht entgehen.—Seine Physiognomik gibt ein weitläufiges Werk mit vielen Kupfern. Es wird große Beiträge zur bildenden Kunst enthalten, und dem Historien- und Portraitmaler unentbehrlich sein."

Während Goethe die deutsche Literatur und ihre Vertreter mit scharfem Blick beobachtete, ruhte nicht seine eigene literarische Tätigkeit. Einige Auskunft über mehrere schriftstellerische Arbeiten gab er in einem Briefe an Schönborn vom 1. Juni 1773. "Allerlei Neues," schrieb er, "hab' ich gemacht. Eine Geschichte des Titels: Die Leiden des jungen Werthers, darin ich einen jungen Menschen darstelle, der mit einer tiefen reinen Empfindung und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, bis er zuletzt durch dazu tretende Leidenschaften, besonders eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopf schießt. Dann hab' ich ein Trauerspiel gearbeitet: Clavigo, eine moderne Anekdote dramatisiert, mit möglichster Simplizität und Herzenswahrheit. Mein Held ist ein unbestimmter, halb groß, halb kleiner Mensch, der Pendant zum Weislinger im Götz, vielmehr Weislinger selbst in der ganzen Rundung einer Hauptperson. Auch finden sich hier Szenen, die ich im Götz, um das Hauptinteresse nicht zu schwächen, nur andeuten konnte. Noch einige Pläne zu großen Dramen hab' ich gefunden und in meinem Herzen."

In diesem Briefe gestand Goethe, dass er "zwar nicht aus Frankfurt gekommen, doch ein so verworrenes Leben geführt habe, dass es ihm an neuen Empfindungen und Ideen nie gemangelt." Der Zeitpunkt war indes nahe, wo er, nach seines Vaters Wunsch, Frankfurt wieder verlassen, und sich nach Wetzlar begeben sollte, um sich in dem dortigen Reichskammergericht in der juristischen Praxis zu üben. Dieser Ortswechsel hatte wenig Lockendes für ihn. Er fürchtete, dass in Wetzlar, außer dem Zivil- und Staatsrecht, ihm nichts Wissenschaftliches entgegen treten, und dass besonders seine Liebe zur Poesie dort wenig Nahrung finden möchte. In letzterer Hinsicht sorgte das Schicksal für ihn, indem es ihm in Wetzlar zur Bekanntschaft Gotters verhalf. Die entschiedene Vorliebe dieses Dichters für die französischen Dramatiker konnte Goethe zwar nicht teilen. Gleichwohl fand zwischen ihm und Gotter ein lebhafter Ideenaustausch statt. Durch seinen neuen Freund ward Goethe zu mehreren lyrischen Gedichten angeregt, die zum Teil, wie unter andern das treffliche Gedicht: "der Wanderer," in dem Göttinger Musenalmanach aufgenommen wurden. Dadurch kam Goethe in nähere Berührung mit dem Göttinger Dichterbunde, zu welchem die Grafen Stolberg, Voß, Bürger, Hölty u.a. gehörten. Die hohe Verehrung, welche die genannten Dichter Klopstock zollten, konnte Goethe nicht in gleichem Maße teilen. Seine frühere Begeisterung für den Sänger des Messias hatte eine Grenze gefunden, seit Klopstock in seinen Oden, statt der griechischen Mythologie, die Nomenklatur der nordischen Götterlehre eingeführt hatte.

Götz von Berlichingen

Unter seinen mannigfachen poetischen Beschäftigungen, besonders einem eifrigen Studium des Homer, ward Goethe durch täglich wiederkehrende Gespräche über den Zustand des Visitationsgerichts und über so manche dabei obwaltende Hindernisse und Mängel auf unangenehme Weise daran erinnert, dass er sich in Wetzlar befand. Das kleinliche Detail von Nachlässigkeiten, Versäumnissen, Ungerechtigkeiten, Bestechungen u.s.w. ermüdete ihn. Zerstreut durch öffentliche Amtsgeschäfte, wollte ihm keine ästhetische Arbeit gelingen. Erwünscht kam ihm die durch Merk in Darmstadt an ihn ergangene Aufforderung zu Beiträgen für die Frankfurter gelehrten Anzeigen. Goethes Schwager, Schlosser, war der Herausgeber jenes Blattes. Die von Goethe für die Frankfurter gelehrten Anzeigen gelieferten Rezensionen waren großenteils Nachklänge seiner akademischen Jahre. Überall zeigte sich darin die frisch hervorbrechende Naturkraft des Dichters, die allem trocknen Theorienwesen abhold, sich in jeder Weise Luft zu machen suchte. Heftig bekämpfte er alles Falsche, Schiefe und Unnatürliche in jenen Rezensionen, die kaum eine Spur enthielten von der in späteren Jahren ihm eignen Ruhe und Besonnenheit.

Willkommene Zerstreuung fand er auf einer Rheinreise, zu der ihn Merk in Darmstadt aufgefordert hatte. In Koblenz lernte er Wielands Jugendfreundin Sophie la Roche, und außer ihr besonders den durch seine anziehende Unterhaltungsgabe bekannten Schriftsteller Leuchsenring kennen, dessen Charakter Goethe später mit vielem Humor in seinem Fastnachtsspiel "Pater Brey" schilderte. Manche Ausflüge unternahm Goethe in die Umgebung, unter andern nach Ehrenbreitstein.

Seine schriftstellerische Tätigkeit hatte eine Zeit lang geruht. Erst als er Wetzlar verlassen und wieder nach Frankfurt zurückgekehrt war, gestaltete sich der Stoff zum "Götz von Berlichingen", den er lange mit sich herumgetragen, zu einem eigentlichen Ganzen. Dies Sujet hatte sich vor seiner Einbildungskraft so weit ausgedehnt, dass es die Grenzen der dramatischen Form völlig zu überschreiten drohte. Seine Schwester Cornelia konnte die Vollendung des Werks kaum erwarten. Sie äußerte oft ihre Zweifel an Goethes Beharrlichkeit. Wie er in späteren Jahren erzählte, war er mit seiner Arbeit in sechs Wochen fertig. Weder Merks, noch Herders Urteil, denen er sein Manuskript mitteilte, befriedigte ihn. Wie er selbst über sein dramatisches Produkt dachte, schilderte Goethe in späteren Jahren. Mit den ersten Akten seines Schauspiels war er im Allgemeinen zufrieden; in den folgenden aber, besonders gegen das Ende, habe ihn, meinte er, eine wunderbare Leidenschaft unbewusst hingerissen.

"Ich hatte," gestand Goethe, "indem ich mich bemühte, Adelheid liebenswürdig zu schildern, mich selbst in sie verliebt. Unwillkürlich war meine Feder nur ihr gewidmet. Das Interesse an ihrem Schicksal nahm überhand, und wie ohnehin gegen das Ende des Stücks Götz außer aller Tätigkeit gesetzt, nur zu einer unglücklichen Teilnahme am Bauernkriege zurückkehrte, so war nichts natürlicher, als dass eine reizende Frau ihn bei mir ausstach. Diesen Mangel, oder vielmehr diesen tadelhaften Überfluss erkannt' ich bald. Ich suchte daher meinem Werke immer mehr historischen und nationalen Gehalt zu geben, und das, was daran fabelhaft oder bloß leidenschaftlich war, auszulöschen, wobei ich freilich manches aufopferte. So hatte ich mir z. B. etwas Rechtes zu Gute getan, indem ich in einer grausen nächtlichen Zigeunerscene Adelheid auftreten, und ihre schöne Gegenwart Wunder tun ließ. Eine nähere Prüfung verbannte diese Scene, so wie auch der im vierten und fünften Akt umständlich ausgeführte Liebeshandel zwischen Franz und seiner gnädigen Frau sich ins Enge zog, und nur in seinen Hauptmomenten hervorleuchtete."

Goethe entschloss sich zu einer Umarbeitung seines Schauspiels, die er in einigen Wochen vollendete. In seinen gesammelten Werken findet man auch den "Götz von Berlichingen" in seiner ursprünglichen Gestalt und eine spätere Theaterbearbeitung jenes Schauspiels vom Jahr 1804. Niemand war jedoch unzufriedener mit dieser Umformung seines Stücks, als Merk. Er drang auf die Herausgabe des Schauspiels, und erbot sich, als Goethe, wie schon früher bei den "Mitschuldigen," keinen Verleger finden konnte, die Druckkosten zu übernehmen, wenn Goethe für die Anschaffung des Papiers sorgen wollte. So ward der "Götz von Berlichingen" 1773 zu Hamburg gedruckt und bereits im nächsten Jahre neu aufgelegt in der Vaterstadt des Dichters, der sich, nach seinem eignen Geständnisse aus späterer Zeit, "bei sehr erschöpfter Kasse in großer Verlegenheit befand, wie er das Papier bezahlen sollte, auf welchem er die Welt mit seinem Talent bekannt gemacht hatte."

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