Goethes reist nach Italien
Goethes Dichtertalent schien unter so heterogenen Beschäftigungen zu schlummern. Die früher erwähnten Anfänge des "Wilhelm Meister" hatten lange geruht. Eine ganz neue Richtung erhielten Goethes Lebensverhältnisse und seine Tätigkeit, als die Huld seines Fürsten ihm vergönnte, das Land zu sehen, das von frühester Jugend an ein Gegenstand seiner Sehnsucht gewesen. Im September 1786 reiste er nach Italien. Dort fand sein reiches Gemüt die gleiche Empfänglichkeit für das Hohe und kindlich Liebliche, sein tiefer Sinn für Natur und Kunst die vollste Befriedigung.
Das unvollendete Manuskript seiner "Iphigenie" hatte Goethe nach Italien mitgenommen. Dieser erste Entwurf, völlig abweichend in der Form, die jenes Schauspiel später erhielt, ist von A. Stahr (Oldenburg 1839) veröffentlicht worden. Goethe schrieb darüber den 8. September 1786: "Das Stück, wie es gegenwärtig da steht, ist mehr Entwurf, als Ausführung; es ist in poetischer Prosa geschrieben, die sich manchmal in einen jambischen Rhythmus verliert, auch wohl andern Silbenmaßen ähnelt. Dies tut freilich der Wirkung großen Eintrag, wenn man es nicht sehr gut liest und durch gewisse Kunstgriffe diese Mängel zu verbergen weiß. Herder legte mir dies so dringend ans Herz, und da ich meinen größeren Reiseplan ihm, wie Allen, verborgen hatte, so glaubte er, es sei nur wieder von einer Bergwandrung die Rede, und weil er sich gegen Mineralogie und Geologie immer spöttisch äußerte, meinte er, ich sollte, statt taubes Gestein zu klopfen, meine Werkzeuge an diese Arbeit wenden. Jetzt sondere ich die Iphigenie aus dem Packet, und nehme sie mit mir in das schöne warme Land als Begleiterin. Der Tag ist so lang, das Nachdenken ungestört, und die herrlichen Bilder der Urwelt verdrängen keineswegs den poetischen Sinn; sie rufen ihn vielmehr, von Bewegung und freier Luft begleitet, nur desto schneller hervor."
Am 28. September 1786 war Goethe in Venedig angekommen. "Ich bin hier," schrieb er, "gut logiert in der Königin von England, nicht weit vom Marcusplatze. Meine Fenster gehen auf einen schmalen Kanal zwischen hohen Häusern. Gleich unter mir befindet sich eine einbogige Brücke, und gegenüber ein schmales, belebtes Gässchen. So wohn' ich, und die Einsamkeit, nach der ich oft so sehnsuchtsvoll geseufzt, kann ich nun recht genießen; denn nirgends fühlt man sich einsamer, als im Gewimmel, wo man sich, Allen ganz unbekannt, durchdrängt."
Ermüdet von einer Wanderung durch die Stadt mit ihren Kanälen, Brücken und Brückchen, setzte sich Goethe am Michaelisfeste, wo eine ungeheuere Menschenmasse über den Rialto nach der Kirche zog, in eine Gondel. Durch den nördlichen Teil des großen Canals fuhr er in die Lagunen bis gegen den Marcusplatz. Er überließ sich seinen einsamen Betrachtungen. "So war ich nun," schrieb er, "auf einmal ein Mitherr des adriatischen Meeres, wie jeder Venetianer sich fühlt, wenn er sich in seine Gondel legt. Ich gedachte dabei meines Vaters, der nichts Besseres wusste, als von diesen Dingen zu erzählen. Wird mir's nicht auch so gehen? Alles, was mich umgibt, ist würdig, ein großes Werk versammelter Menschenkraft, ein herrliches Monument, nicht eines Gebieters sondern eines Volkes. Und wenn auch ihre Lagunen sich nach und nach ausfüllen, böse Dünste über dem Sumpfe schweben, ihr Handel geschwächt, ihre Macht gesunken ist, so wird die ganze Anlage der Republik und ihr Wesen nicht einen Augenblick dem Beobachter unehrwürdig sein. Sie unterliegt der Zeit, wie Alles, was ein erscheinendes Dasein hat."
Einen genussreichen Abend versprach sich Goethe im Theater St. Chrysostomo. Die Vorstellung von Crebillon's Electra befriedigte ihn nicht, ungeachtet des im Allgemeinen braven Spiels. "Indessen," schrieb er, "hab' ich doch wieder gelernt. Der italienische, immer einsilbige Jambe hat für die Deklamation große Unbequemlichkeit, weil die letzte Silbe durchaus kurz ist, und wider den Willen des Deklamators in die Höhe schlägt."
Goethes Impressionen in Italien
Lebhafter, als für die italienische Bühne, interessierte sich Goethe für die Baukunst, die, nach seinen eignen Worten, "wie ein Geist aus dem Grabe hervor stieg." Fleißig studierte er den Vitruv, Palladio und andere Schriftsteller, um so zu einer klaren Vorstellung von jenen wertvollen Überresten vergangener Zeit zu gelangen. Als er nach einem vierzehntägigen Aufenthalt in Venedig am 14. Oktober 1786 die Stadt wieder verließ, und über Ferrara, Cento, Bologna, Lugano, Perugia, Terni und Citta nach Rom reiste, glaubte er sich das Zeugnis geben zu können: "Ich bin nur kurze Zeit in Venedig gewesen, aber ich habe mir die dortige Existenz genugsam zugeeignet, und weiß, dass ich, wenn auch einen unvollständigen, doch einen ganz klaren und wahren Begriff mit wegnehme."
Begeistert von dem Eindruck mehrerer Gemälde Raphaels, die er in Bologna betrachtet hatte, besonders einer heiligen Agathe, schrieb Goethe den 19. Oktober 1786: "Ich habe mir die Gestalt wohl gemerkt, und werde ihr im Geist meine Iphigenie vorlesen, und meine Heldin nichts sagen lassen, was diese Heilige nicht aussprechen möchte.—Da ich einmal dieser süßen Bürde gedenke, die ich auf meinen Wandrungen mit mir führe, so kann ich nicht verschweigen, dass zu den großen Kunst- und Naturgegenständen, durch die ich mich durcharbeiten muss, noch eine wundersame Folge von poetischen Gestalten hindurch zieht, die mich beunruhigen. Von Cento herüber wollte ich meine Arbeit an Iphigenie fortsetzen; aber was geschah? Der Geist führte mir das Argument der Iphigenie von Tauris vor die Seele, und ich musste es ausbilden. So kurz als möglich sei es hier verzeichnet: Electra, in gewisser Hoffnung, dass Orest das Bild der Taurischen Diana nach Delphi bringen werde, erscheint in dem Tempel des Apoll, und widmet die grausame Axt, die so viel Unheil in Pelops Hause angerichtet, als schließliches Sühneopfer dem Gotte. Zu ihr tritt leider einer der Griechen, und erzählt, wie er Orest und Pylades nach Tauris begleitet, die beiden Freunde zum Tode führen sehen, und sich glücklich gerettet habe. Die leidenschaftliche Electra kennt sich selbst nicht, und weiß nicht, ob sie gegen Götter oder Menschen ihre Wut richten soll. Indessen sind Iphigenie, Orest und Pylades gleichfalls in Delphi angekommen. Iphigeniens heilige Ruhe Kontrastiert gar merkwürdig mit Elektras irdischer Leidenschaft, als die beiden Gestalten, wechselseitig unerkannt, zusammentreffen. Der entflohene Grieche erblickt Iphigenien, erkennt die Priesterin, welche die Freunde geopfert, und er entdeckt es Electra. Diese ist im Begriff, mit demselben Beil, welches sie dem Altar wieder entreißt, Iphigenien zu ermorden, als eine glückliche Wendung dieses letzte schreckliche Übel von den Geschwistern abwendet." Wenn diese Scene gelänge, meinte Goethe, dürfte nicht leicht etwas Größeres und Rührenderes auf der Bühne gesehen worden sein. "Aber," fügte er hinzu, "wo soll man Hände und Zeit hernehmen, wenn auch der Geist willig wäre?"
Groß und gewaltig war der Eindruck, den die "Hauptstadt der Welt" auf Goethes Gemüt machte. So nannte er Rom in einem Briefe vom 1. November 1786. In lebhafter Erinnerung an die römischen Prospekte im elterlichen Hause, schrieb Goethe: "Alle Träume meiner Jugend seh' ich nun erfüllt, ich sehe die ersten Kupferbilder wieder. Was ich in Gemälden, Zeichnungen und Holzschnitten schon lange gekannt, steht nun beisammen vor mir. Wohin ich gehe, finde ich eine Bekanntschaft in einer neuen Welt. Es ist Alles, wie ich mir's dachte, und Alles neu. Eben dies kann ich von meinen Betrachtungen, von meinen Ideen sagen. Ich habe keinen ganz neuen Gedanken gehabt, nichts ganz fremd gefunden; aber die alten Ideen sind so bestimmt, so lebendig, so zusammenhängend geworden, dass sie für neu gelten können."