Goethes Bekanntschaften in Rom
Zu Goethes vorzüglichsten Bekanntschaften in Rom gehörte der Fürst Lichtenstein, der italienische Dichter Monti, der besonders durch seine mythologischen Forschungen bekannte Schriftsteller Moritz und der Historienmaler Tischbein. Mit dem Letzteren hatte Goethe schon früher in Briefwechsel gestanden. Durch Tischbein gelangte er zu einem klaren Verständnis und einer richtigen Würdigung der zahlreichen und unschätzbaren Gemälde Raphaels, Michel Angelos u.A. in der Peterskirche und besonders in der Sixtinischen Kapelle.
Eine treuere Anhänglichkeit und eine an Schwärmerei grenzende Vorliebe für seine literarischen Erzeugnisse, besonders für den Werther, zeigte keiner von Goethes Freunden in solchem Grade, als Moritz. Goethe interessierte sich lebhaft für ihn, und nahm innigen Anteil an seinem Schicksal, als Moritz durch einen unglücklichen Fall den Arm brach. Goethe schrieb darüber: "Was ich bei diesem Leidenden als Wärter, Beichtvater und Vertrauter, als Finanzminister und geheimer Sekretär erfahren und gelernt, mag mir in der Folge zu Gute kommen. Die fatalsten Leiden und die edelsten Genüsse gingen diese Zeit über immer einander zur Seite."
Charakteristisch in mehrfacher Hinsicht war ein Schreiben, welches Goethe im November 1786 an den Herzog von Weimar richtete. "Wie dank' ich Ihnen," schrieb er aus Rom, "dass Sie mir diese köstliche Muße geben und gönnen. Da doch einmal von Jugend auf mein Geist diese Richtung genommen, so hätt' ich nie ruhig werden können, ohne dies Ziel zu erreichen. Mein Verhältnis zu den Geschäften ist aus meinem persönlichen zu Ihnen entstanden; lassen Sie nun ein neues Verhältnis zu Ihnen nach so manchen Jahren aus dem bisherigen hervorgehen. Ich darf wohl sagen, ich habe mich in dieser Einsamkeit selbst wiedergefunden. Aber als was? Als Künstler! Was ich sonst noch bin, werden Sie beurteilen und nutzen. Sie haben durch Ihr fortdauerndes wirkendes Leben jene fürstliche Kenntnis, wozu die Menschen zu benutzen sind, immer mehr erweitert und geschärft, wie mir jeder Ihrer Briefe deutlich sehen lässt. Dieser Beurteilung unterwerfe ich mich gern. Fragen Sie mich über die Symphonie, die Sie zu spielen gedenken; ich will gern und ehrlich jederzeit meine Meinung sagen. Lassen Sie mich an Ihrer Seite das ganze Maß meiner Existenz ausfüllen, so wird meine Kraft, wie eine neu geöffnete, gesammelte, gereinigte Quelle, von einer Höhe nach Ihrem Willen leicht da oder dorthin zu leiten sein. Schon sehe ich, was mir die Reise genützt, wie sie mich aufgeklärt und meine Existenz erheitert hat. Wie Sie mich bisher getragen, sorgen Sie ferner für mich. Sie tun mir mehr wohl, als ich selbst kann, als ich wünschen und verlangen darf. Ich habe so ein großes und schönes Stück Welt gesehen, und das Resultat ist, dass ich nur mit Ihnen und den Ihrigen leben mag. Ja, ich würde Ihnen noch mehr werden, als ich oft bisher war, wenn Sie mich nur das tun lassen, was Niemand als ich tun kann, und das Übrige Andern auftragen. Ihre Gesinnungen, die Sie mir in Ihrem Briefe zu erkennen gaben, sind so schön, für mich bis zur Beschämung ehrenvoll, dass ich nur sagen kann: Herr, hier bin ich, mache aus deinem Knechte, was du willst."
In einem späteren Schreiben an den Herzog von Weimar sprach Goethe den Wunsch aus, das Land seines Fürsten nach seiner Rückkehr "als Fremder durchreisen zu dürfen." Mit ganz frischem Auge, meinte er, würde ihn dann die Gewohnheit, Land und Welt zu sehen, jede Provinz betrachten lassen. "Ich würde," fügte er hinzu, "mir nach meiner Art ein neues Bild machen, einen vollständigen Begriff erlangen, und mich zu jeder Art von Dienst gleichsam auf's neue qualifizieren, zu dem mich Ihre Güte, Ihr Zutrauen bestimmen will. Bei Ihnen und den Ihrigen ist mein Herz und Sinn, wenn sich gleich die Träume einer Welt in die Waagschale legen. Der Mensch bedarf wenig; Liebe und Sicherheit seines Verhältnisses zu dem einmal Gewählten und Gegebenen kann er nicht entbehren." So bewahrte Goethe mit reiner Pietät die treue Anhänglichkeit und innige Verehrung für einen Fürsten, dem er sein Lebensglück und die Muße zu seiner literarischen Tätigkeit verdankte.
Vollendung der Iphigenie
Fleißig beschäftigte sich Goethe in Rom mit der Fortsetzung und Vollendung der Iphigenie. Zu Anfange des Jahres 1787 war er damit fertig geworden. In einem Briefe vom 6. Januar machte er die Orte namhaft, wo er sich vorzugsweise mit seiner dramatischen Dichtung beschäftigt hatte. Er schrieb darüber: "Am Gardasee, als der gewaltige Mittagswind die Wellen ans Ufer trieb, und wo ich wenigstens so allein war, als meine Heldin am Gestade von Tauris, zog ich die ersten Linien der neuen Bearbeitung, die ich in Verona, Vicenza, Padua, am fleißigsten aber in Venedig fortsetzte. Dann aber geriet die Arbeit in Stocken. Ich ward auf eine neue Erfindung geführt, nämlich Iphigenie auf Delphi zu schreiben, was ich auch sogleich getan hätte, wenn nicht die Zerstreuung und ein Pflichtgefühl gegen das ältere Stück mich davon abgehalten hätten."
Was ihn dazu bewog, seine Iphigenie ursprünglich in Prosa zu schreiben, war, nach seinen eignen Worten "die Unsicherheit, in der die deutsche Prosodie schwebe." "Es ist auffallend," schrieb er, "dass wir in unserer Sprache nur wenige Silben finden, die entschieden kurz oder lang sind; mit den übrigen verfährt man nach Geschmack und Willkür." Ungeachtet dieser Bemerkungen gab er späterhin seinem Schauspiel eine metrische Form. Das vollendete Manuskript hatte er nach Weimar gesandt, um das Urteil seiner Freunde zu vernehmen. In den ruhigen Gang des Stücks konnten sie sich nicht sogleich finden. Sie hatten mehr leidenschaftliche Bewegung erwartet, "etwas Berlichingisches", wie Goethe sich darüber äußerte. Immer dachten sie sich den Dichter noch in seiner poetischen Sturm- und Drangperiode, die längst für ihn vorüber war.
In einem Briefe vom 21. Februar 1787 beklagte sich Goethe, noch kein gründliches und erschöpfendes Urteil über die Iphigenie gehört zu haben. Das könnte ihm, meinte er, zur Leitung dienen bei seinem "Tasso", denn das sei doch eine ähnliche Arbeit. Von diesem Schauspiel hatte er damals die ersten Szenen entworfen. "Der Gegenstand," schrieb er, "ist fast noch beschränkter, als in der Iphigenie, und will daher im Einzelnen noch mehr ausgearbeitet sein. Doch weiß ich noch nicht, was es werden wird. Das Vorhandene muss ich ganz zerstören. Es hat zu lange gelegen, und weder die Personen, noch der Plan, noch der Ton haben mit meiner jetzigen Ansicht die geringste Verwandtschaft."
Bestärkt ward Goethe in diesem Entschluss durch den Beifall, der von einsichtsvollen Freunden seiner Umarbeitung der Iphigenie gezollt ward. Ihn selbst ließ sein Schauspiel auch in der veränderten Form unbefriedigt.
Indes tröstete er sich darüber in einem Briefe vom 16. März 1787. Eine solche Arbeit, meinte er, werde eigentlich nie fertig; man müsse sie für fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das Möglichste getan habe. "Das soll mich aber," fügte er hinzu, "nicht abschrecken, mit dem Tasso eine ähnliche Operation vorzunehmen. Lieber würfe ich ihn ins Feuer. Aber ich will bei meinem Entschluss beharren, und da es einmal nicht anders ist, so wollen wir ein wunderlich Werk daraus machen."
Beschäftigt mit seiner dramatischen Dichtung, blieb Goethe, wenn man den Umgang mit dem Landschaftsmaler Hackert ausnimmt, dessen Leben er später so anziehend beschrieb, auch in Neapel "dem eigensinnigen Einsiedlersinn" treu, der ihm schon in Rom von seinen Freunden zum Vorwurf gemacht worden war. "Freilich scheint es," schrieb er, "ein wunderliches Beginnen, dass man in die Welt geht, um allein bleiben zu wollen." Während Goethe sich aber dem geselligen Leben entzog, streifte er in der Umgebung umher. "Neapel ist ein Paradies," äußerte er in dem vorhin mitgeteilten Briefe. "Jedermann lebt in einer Art von trunkener Selbstvergessenheit. Mir geht es eben so. Ich erkenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer Mensch."
Goethe in Sizilien
Längere Zeit schwankte Goethe in dem Entschluss, auch Sizilien zu besuchen. "Eine Seereise," schrieb er, "fehlt mir ganz in meinen Begriffen. Die kleine Überfahrt, vielleicht eine Küstenumschiffung, wird meiner Einbildungskraft nachhelfen und mir die Welt erweitern. Und so geh' ich denn Donnerstag den 29sten mit der Corvette, die ich, des Seewesens unkundig, in meinem vorigen Briefe zum Rang einer Fregatte erhob, nach Palermo."
Von der Seekrankheit befallen, wagte sich Goethe längere Zeit nicht wieder auf's Verdeck, und musste so den herrlichen Anblick der Küsten und Inseln entbehren. "Abgeschlossen von der äußern Welt," schrieb er, "ließ ich die innere walten, und da eine langsame Fahrt vorauszusehen war, gab ich mir gleich zu bedeutender Unterhaltung ein starkes Pensum auf. Die zwei ersten Akte des Tasso, in poetischer Prosa geschrieben, habe ich von allen Papieren allein mit über See genommen. Diese beiden Akte, schon vor mehreren Jahren geschrieben, hatten etwas Weichliches, Nebelhaftes, welches sich jedoch bald verlor, als ich, nach neueren Ansichten, die Form vorwalten und den Rhythmus eintreten ließ."
Einen begeisternden Eindruck machte auf Goethe der majestätische Anblick des Meeres mit seinen zahllosen Inseln. In dieser lebendigen Umgebung glaubte er, nach seinen eignen Worten, den besten Kommentar zu Homers Odyssee zu finden, deren Lektüre ihn damals beschäftigte. "Was den Homer betrifft," schrieb er an Herder, "so ist mir eine Decke von den Augen gefallen. Die Beschreibungen, die Gleichnisse u.s.w. kommen uns poetisch vor, und sind doch unsäglich natürlich, aber freilich mit einer Reinheit und Innigkeit bezeichnet, vor der man erschrickt. Selbst die sonderbarsten erlogensten Begebenheiten haben eine Natürlichkeit, die ich nie so gefühlt habe, als in der Nähe der betriebenen Gegenstände. Ich möchte den Gedanken kurz so ausdrücken: sie stellen die Existenz dar; wir gewähren den Effekt; sie schildern das Fürchterliche; wir schildern fürchterlich; sie das Angenehme, wir angenehm. Daher kommt alles Übertriebene, alle falsche Grazie, aller Schwulst. Wenn das, was ich sage, nicht neu ist, so hab' ich es doch bei neuem Anlass recht lebhaft gefühlt. Nun ich alle diese Küsten und Vorgebirge, Golfe und Buchten, Inseln und Erdzungen, Felsen und Sandstreifen, buschige Hügel, sanfte Wälder, fruchtbare Felder, geschmückte Gärten, gepflegte Bäume, hängende Reben, Wolkenberge und immer heitere Ebenen, Klippen und Bänke und das alles umgebende Meer mit so vielen Abwechslungen und Mannigfaltigkeiten vor mir habe—nun ist mir erst die Odyssee ein lebendiges Wort."
Ergriffen von diesen Ideen, wollte Goethe in der Heldin einer Tragödie, "Nausikaa" betitelt, von welcher sich jedoch nur die zwei ersten Szenen des ersten Akts in Goethes Werken erhalten haben, nach seinen eignen Äußerungen, "eine treffliche, von Vielen umworbene Jungfrau darstellen, die keiner Neigung sich bewusst, alle Freier bisher ablehnend behandelt, durch einen sittsamen Fremdling aber gerührt, aus ihrem Zustande herausträte und durch eine voreilige Äußerung ihrer Neigung sich kompromittierte." Von dieser Situation versprach sich Goethe eine große tragische Wirkung. Der Reichtum der subordinierten Motive und besonders das Meer- und Inselhafte der Ausführung sollte, nach Goethes Ansicht, jener einfachen Fabel ein besonderes Interesse geben. Er war so ergriffen von seinem Gegenstande, dass er darüber, wie er äußerte, "seinen Aufenthalt zu Palermo, ja den größten Teil seiner übrigen sizilianischen Reise verträumte."