Goethe und die Metamorphose der Pflanzen

Der lebendige Anteil an jenem Süjet verlor sich jedoch bald wieder. In einem Briefe vom 17. April 1787 beklagte sich Goethe "über das wahrhafte Unglück, von vielerlei Geistern verfolgt und versucht zu werden." In einem öffentlichen Garten weckte die Betrachtung mehrerer dort blühender Gewächse in ihm eine alte Lieblingsidee. Er wollte, wo möglich, unter dieser Schaar die Urpflanze entdecken. Eine poetische Form gab Goethe dieser Idee in seinem Gedicht. "die Metamorphose der Pflanzen." Wissenschaftlich erörterte er jenen Gegenstand in seinem 1790 gedruckten "Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären."

Wie Goethe die Natur überhaupt, besonders aber im Gegensatze zur Kunst betrachtete, zeigten die nachfolgenden Äußerungen in einem Schreiben an die Herzogin Luise von Sachsen-Weimar: "Das geringste Produkt der Natur hat den Kreis seiner Vollkommenheit in sich, und ich darf nur Augen haben, um zu sehen, so kann ich die Verhältnisse entdecken; ich bin sicher, dass innerhalb eines kleinen Zirkels eine ganze wahre Existenz beschlossen ist. Ein Kunstwerk hingegen hat seine Vollkommenheit außer sich; das Beste liegt in der Idee des Künstlers, die er selten oder nie erreicht; alles Folgende in gewissen angenommenen Gesetzen, welche zwar aus der Natur der Kunst und des Handwerks hergeleitet, aber doch nicht so leicht zu verstehen und zu entziffern sind, als die Gesetze der lebendigen Natur. Bei den Kunstwerken ist viel Tradition, die Naturwerke sind immer wie ein frisch ausgesprochenes Wort Gottes."

Über die vorhin erwähnte Idee einer Metamorphose der Pflanzen erklärte sich Goethe näher in einem Briefe an Herder vom März 1787. Er äußerte darin, dass er dem Geheimnis der Pflanzenerzeugung und Organisation ganz nahe gekommen sei, und meinte, dass es nichts Einfacheres gehen könnte. Unter dem italienischen Himmel ließen sich darüber die herrlichsten Beobachtungen anstellen. "Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt," schrieb Goethe, "hab' ich ganz klar und zweifellos gefunden. Alles Übrige sah ich schon im Ganzen, und nur noch einige Punkte müssen bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches die Natur selbst mich beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu, kann man alsdann Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, d. h. die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren können, und nicht etwa malerische und dichterische Schatten und Scheine sind, sondern innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben." Dasselbe Gesetz, meinte Goethe, werde sich auf alles übrige Lebende anwenden lassen.

Goethes Abkehr von Herder

In mehreren von Goethes damaligen Briefen regte sich die Sehnsucht, wieder in seine Heimat zurückzukehren. Besonders freute er sich auf das Wiedersehen Herders, mit dem er stets in innigen Verhältnissen gelebt hatte. An ihn schrieb er den 17. März 1787. "Wir sind so nahe in unserer Vorstellungsweise, als es möglich ist, ohne eins zu sein, und in den Hauptquellen am nächsten. Wenn du diese Zeit her viel aus dir selbst geschöpft hast, so hab' ich viel erworben, und ich kann einen guten Tausch machen. Ich bin freilich mit meiner Vorstellung sehr ans Gegenwärtige geheftet, und je mehr ich die Welt sehe, desto weniger kann ich hoffen, dass die Menschheit je Eine weise, kluge, glückliche Masse werden könne. Vielleicht ist unter den Millionen eine, die sich des Vorzugs rühmen kann; bei der Konstitution der unsrigen bleibt mir so wenig für sie, als für Sizilien bei der seinigen zu hoffen."

In dieser Stimmung versprach sich Goethe viel von dem damals noch ungedruckten dritten Teil von Herders Ideen zu einer Geschichte der Philosophie der Menschheit. "Ich glaube selbst," schrieb Goethe, "dass die Humanität endlich siegen wird. Nur fürcht' ich, dass zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital, und Einer des Andern humaner Krankenwärter sein werde." Als ihn nun das sehnlich erwartete Buch begrüßte, schrieb er den 12. Oktober 1787 an Herder: "Den lebhaftesten Dank für die Ideen. Sie sind mir als das liebwerteste Evangelium gekommen. Die interessantesten Studien meines Lebens laufen da zusammen."

Lockerer ward nach Goethes Rückkehr aus Italien das Band zwischen ihm und Herder. Was beide von einander trennte, war ihre verschiedenartige Stellung zu der Kantischen Philosophie, die damals ihren sich immer weiter ausbreitenden Einfluss geltend machte, und für die Wissenschaft, wie für Poesie und Kunst, ganz neue Prinzipien aufstellte. Als Kant mit seiner "Kritik der reinen Vernunft" hervorgetreten war, erklärte sich Herder, obgleich er ein Schüler Kants gewesen war, für einen seiner entschiedensten Gegner. Goethe aber, obgleich er für Philosophie im strengsten Sinne des Worts eigentlich kein Organ hatte, hielt sich doch zur Partei derjenigen, die mit Kant behaupteten: wenn auch alle menschliche Erkenntnis mit der Erfahrung beginne, so entspränge sie darum doch nicht immer unbedingt aus der Erfahrung.

Während seines Aufenthalts in Rom hatte Goethe mit Moritz viel über Kunst und Kunsttheorie gesprochen. Immer hatte ihm eine feste Basis gefehlt. Diese glaubte er in einem späteren Werke Kants, in der "Kritik der Urteilskraft" zu finden. Daraus entsprang seine Vorliebe für dies Buch und seine Abneigung gegen Herder, der es ihm zu verleiden suchte. Goethe glaubte diesen philosophischen Studien mannigfache Belehrung zu verdanken. Wenn er auch im Einzelnen nicht immer mit der Vorstellungsart und Ansichten Kants übereinstimmen konnte, so schienen doch die Hauptideen in der "Kritik der Urteilskraft" seiner Denk- und Empfindungsweise im Allgemeinen analog. Das innere Leben der Kunst, wie der Natur, ihr beiderseitiges Wirken von innen heraus schien ihm klar ausgesprochen in jenem Werke Kants, das kurze Zeit jene andere Lektüre verdrängte. Seine innere Überzeugung musste ihm jedoch bald sagen, dass er für abstrakte Philosophie und ihre metaphysischen Träume nicht geschaffen sei.

Rückkehr nach Weimar

Ein höheres Interesse gewann für Goethe, bald nach seiner Ankunft in Weimar, das frische Naturleben, besonders als seine Vorliebe für Botanik durch Batsch, Göttling u.a. ausgezeichnete Männer in der benachbarten Universitätsstadt Jena aufs Neue angeregt ward. Die Aufsicht über die dortigen wissenschaftlichen Anstalten, die Einrichtung und Anordnung der Museen, die Pflege des botanischen Gartens gaben ihm eine ebenso angenehme, als lehrreiche Beschäftigung. Die Betrachtung der Natur, verbunden mit dem Studium der Botanik, entschädigte ihn für den Mangel eines Kunstlebens, wie er es in Italien genossen hatte. Immer kehrte Goethe, auch wenn er sich eine Zeit lang daraus entfernte, wieder in dies Gebiet zurück. Ihm blieb ein lebendiges Interesse, der Bildung und Umbildung organischer Naturen nachzuforschen. Die von ihm selbst in seiner "Metamorphose der Pflanzen" aufgestellte Theorie diente ihm dabei zum Wegweiser. Aber die Natur schien ihm zugleich synthetisch zu handeln, indem sie völlig fremdartig scheinende Verhältnisse einander näherte und sie zusammen in Eins verknüpfte.

Unter diesen Forschungen wandte sich Goethes Tätigkeit abwechselnd wieder zu anderweitigen Beschäftigungen. Sein poetisches Talent übte sich, nach der Vollendung der "Iphigenie" und des "Tasso" an dem Trauerspiel "Egmont." Merkwürdig war ihm der Umstand, dass nach den Zeitungen die von ihm geschilderten Szenen sich in Brüssel fast wörtlich erneuert hatten. Noch vor dem Ausbruch der französischen Revolution hatte die berüchtigte Halsbandgeschichte, während seines Aufenthalts in Italien einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte die über jenen Vorfall erschienenen Prozessakten mit Aufmerksamkeit gelesen. Die in Sizilien von ihm gesammelten "Nachrichten über Cagliostro und seine Familie" benutzte Goethe zu seinem Lustspiel: "Der Großcophta." Nach einzelnen, von dem Kapellmeister Reichardt komponierten Liedern zu schließen, hätte sich jener Stoff vielleicht noch besser zu einer Oper geeignet. Goethe versuchte sich indes auch in der eben genannten Gattung der Poesie. Unvollendet blieb jedoch sein Singspiel: "die ungleichen Hausgenossen." Nachklänge seines Aufenthalts in Italien waren die "römischen Elegien" und die "venetianischen Epigramme." Sie wurden jedoch erst gedichtet nach einem abermaligen längeren Aufenthalt Goethes in Rom und Venedig (1790) im Gefolge der Herzogin Amalie von Sachsen-Weimar.

Kaum wieder aus Italien zurückgekehrt, begleitete Goethe den Herzog von Weimar nach Schlesien, wo die preußischen und österreichischen Gesandten sich auf dem Kongress zu Reichenbach versammelten. In Breslau, mitten unter der allgemeinen Bewegung, welche die Truppenmärsche und Manöver der verschiedenen Regimenter veranlassten, ward Goethe wieder von der alten Lieblingsidee ergriffen, sich völlig zu isolieren, und mit Naturstudien, besonders aber mit der vergleichenden Anatomie sich zu beschäftigen. Zur festen Überzeugung ward ihm die Idee, dass ein allgemeiner, durch Metamorphose erzeugter Typus durch die sämtlichen organischen Geschöpfe hindurchgehe und in allen seinen Abstufungen sich beobachten lasse. In mehreren, zum Teil ungedruckt gebliebenen Abhandlungen zergliederte Goethe dies Thema. Er fand jedoch bald, dass die Aufgabe zu groß war, um genügend gelöst zu werden. Auf andere wissenschaftliche Gegenstände lenkte sich daher, als er wieder nach Weimar zurückgekehrt war, Goethes Tätigkeit. Eine geräumige dunkle Kammer in seinem freigelegenen Wohnhause mit dem daran stoßenden Garten begünstigte seine chromatischen Untersuchungen, die damals ein lebhaftes Interesse für ihn gewonnen hatten. Zu einem besonderen Gegenstande seiner Aufmerksamkeit machte er die prismatischen Erscheinungen. Die Resultate seiner Forschungen veröffentlichte Goethe in seinen "optischen Beiträgen," von denen 1791 das erste Stück erschien.

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