Leitung des Weimarschen Hoftheaters

Seinem Dichtergenius und der Liebe zur dramatischen Poesie ward er wieder zurückgegeben, als er um diese Zeit die Leitung des Weimarischen Hoftheaters übernahm. Diese Bühne hatte sich aus den in Weimar zurückgebliebenen Mitgliedern der Bellomo'schen Schauspielertruppe gebildet, welche seit 1784 nicht ohne Beifall in der genannten Residenz gespielt hatte. Die unermüdliche Tätigkeit des Konzertmeisters Cranz verschaffte besonders den italienischen und französischen Opern, welche Vulpius für das Theater bearbeitete, dort längere Zeit Aufnahme und Beifall. Beschäftigung und Unterhaltung zugleich fand Goethe, der die Leitung des Ganzen übernommen hatte, in den mannigfachen Versuchen, das Talent der Schauspieler zu wecken, und ihrem Spiel, wie der technischen Einrichtung der Bühne, eine immer höhere Vollkommenheit zu geben. In diesen Bemühungen unterstützte ihn besonders Einsiedel, der, mit gleicher Vorliebe für die Oper, im Gefolge der Herzogin Amalie aus Italien nach Weimar zurückgekehrt war. In diesem heitern Lebenskreise erhielt Goethes Geist eine ernstere Richtung durch den Blick auf die damaligen Zeitereignisse nach dem Ausbruch der französischen Revolution. In den "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten," in den Lustspielen "der Bürgergeneral" und "die Aufgeregten", von denen das zuletzt genannte Stück unvollendet blieb, beschäftigte sich Goethes Phantasie, einzelne Szenen des damaligen Kriegstheaters darzustellen, das er bald aus eigner Anschauung kennen lernen sollte. Es war um diese Zeit, als er den Herzog von Weimar auf dem Feldzuge in die Champagne begleitete. Über Frankfurt, Mainz, Trier und Luxemburg begab sich Goethe 1792 nach Longwi, welches er den 26. August schon eingenommen fand, von da nach Valmy und von Trier die Mosel hinab nach Koblenz.

Auch in diesem vielfach bewegten und zerstreuten Leben verlor Goethe seine wissenschaftlichen Forschungen nicht völlig aus den Augen. Manche Naturbeobachtungen und die fortgesetzte Beschäftigung mit seinen chromatischen Arbeiten lenkten seinen Blick von den Kriegsereignissen hinweg. Der Entwurf zu einer allgemeinen "Farbenlehre" fiel in diese Zeit. Aber auch Goethes Dichtertalent regte sich wieder auf mannigfache Weise, unter andern in einer freien Umarbeitung des altdeutschen Gedichts "Reinecke Fuchs," für welches er statt der Jamben Hexameter wählte, um sich in diesem, ihm noch wenig geläufigen Versmaß auch einmal zu versuchen.

In dem allgemeinen Kriegstumult, der ihn umgab, als er der Belagerung von Mainz beiwohnte, ward Goethe an die ruhigen bürgerlichen Verhältnisse seiner Vaterstadt Frankfurt erinnert durch einen Brief seiner Mutter, die ihm Aussichten eröffnete zu einer durch den Tod seines Oheims Textor erledigten Ratsherrnstelle. Viel Lockendes hatte die Aussicht für ihn, in seiner Vaterstadt rasch empor zu steigen von einer Ehrenstufe zur andern, und auf die reichsstädtische Verfassung Frankfurts einen bedeutenden Einfluss zu gewinnen. Aber das unumschränkte Vertrauen, das der Herzog von Weimar in ihn gesetzt, die mannigfachen Beweise der Huld seines Fürsten und ein nicht zu unterdrückendes Gefühl der Dankbarkeit waren für ihn mehr als hinreichend, jenen Antrag abzulehnen. Auch täuschte er sich wohl nicht, wenn er den neuen Wirkungskreis, in den er treten sollte, weder seinen Fähigkeiten, noch seinen Neigungen angemessen hielt.

Goethes Reisen durch Deutschland

Genussreiche Tage verlebte Goethe damals mit seinem Jugendfreunde Jacobi in Pempelfort, wo ihn eine geräumige und geschmackvoll dekorierte Wohnung mit einem daran stoßenden Garten empfing. Der Tag ward meistens in der freien Natur zugebracht. Die Abende waren größtenteils der geselligen Unterhaltung über die neusten Erscheinungen im Gebiet der schönen Literatur gewidmet. Auch hier erlebte Goethe ein ähnliches Schicksal, wie bei der ersten Mitteilung des Manuskripts seiner "Iphigenie". Seine Freunde konnten sich nicht sogleich finden in den Ton und Charakter seiner neusten poetischen Produkte, ungeachtet er in denselben doch mit seinem Lebensgange immer gleichen Schritt gehalten zu haben glaubte. Das Verhältnis zu seinen Freunden ward dadurch nicht gestört. Er schied von ihnen mit den wohltuenden Eindrücken, welche die Betrachtung der Gemäldegallerie in dem benachbarten Düsseldorf auf ihn gemacht hatte.

In Duisburg fand Goethe einen alten Bekannten wieder, den Sohn des Professors Plessing, den er vor sechzehn Jahren, wie früher erwähnt, auf seiner damaligen Harzreise in dem Gasthofe zu Wernigerode kennen gelernt hatte. Plessing hatte sich seitdem zu einem geachteten Schriftsteller erhoben. Aber sein früherer Trübsinn war nicht von ihm gewichen. Noch immer schien er nach einem Unerreichbaren zu streben. Das Gespräch zwischen ihm und Goethe geriet bald in Stocken, als die Erinnerung an frühere Verhältnisse, auf die er immer wieder zurückkam, erschöpft war.

Freundlich und zuvorkommend war die Aufnahme, welche Goethe im November 1792 bei der vielseitig gebildeten Fürstin Amalie von Gallizin in Münster fand. Die Betrachtung einer kostbaren Sammlung von geschnittenen Steinen veranlasste den Dichter zu der Bemerkung, dass die christliche Religion sich mit der bildenden Kunst von jeher in einer Art von Zwiespalt befunden habe, da jene sich von der Sinnlichkeit zu entfernen strebe, diese dagegen das sinnliche Element für ihren eigentlichen Wirkungskreis erkenne und darin verharre. Diese Idee legte Goethe dem sinnigen Gedicht: "der neue Amor" zum Grunde, welches man in der Sammlung seiner Werke findet.

Das vielfach bewegte Reiseleben hatte Goethe wieder mit den ruhigen Verhältnissen in Weimar vertauscht. Von den politischen Ereignissen, welche die Welt bedrohten, war er zum Teil ein Zeuge gewesen. Den Bürger, den Bauer, den Soldaten hatte er mit mannigfachen Drangsalen kämpfen sehen. Noch immer dauerten die ungeheuren Bewegungen fort, die die Revolution im Innern Frankreichs hervorgerufen hatte. Der Tod Ludwigs XVI. und seiner Gemahlin, die Greultaten Robespierres, Dantons und anderer damaliger Machthaber erfüllten die Welt mit Schrecken, und bei den raschen Kriegsschritten der aufgeregten französischen Nation schien eine Veränderung, wo nicht ein völliger Umsturz aller bestehenden Verhältnisse zu fürchten. Überall hörte man von Kriegsrüstungen und von Flüchtlingen, die in ihrer Heimat bedroht, anderswo ein Asyl suchten. Vergebens bot Goethe seiner Mutter einen ruhigen Aufenthalt in Weimar an. Sie fühlte keine Besorgnis für ihre eigne Person, tröstete sich durch Bibelstellen, und wollte sich durchaus nicht trennen von ihrer Vaterstadt Frankfurt, mit der sie, wie Goethe sich ausdrückte, "ganz eigentlich zusammengewachsen war."

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